: Bau und Überbau
STADTPLANUNG Die Schriften des Architekturhistorikers Julius Posener (1904–1996) bieten gutes Analyse-Werkzeug
VON LENNART LABERENZ
Man kann mit einem dieser Sätze aus Julius Poseners „Vorlesungen zur Geschichte der Neuen Architektur“, nun von der Zeitschrift Arch+ zum ersten Mal gesammelt herausgegeben, eine Weile schwanger gehen: „Der Architekt hat eine politische Aufgabe,“ sagt Posener da am Ende des zweiten Bandes. Vielleicht spaziert man mit so einem Satz durch das Berliner Viertel Prenzlauer Berg, wo Stadtbau überwiegend zur Investorenangelegenheit geworden ist.
Schon zeigt sich rechts von der Danziger Straße ein weißer Halbkreis nordwestlich der Thälmannsiedlung, gesichert von Zaunschichten, steingewordener Ausdruck vom Agenturengerede, jenem townhouse-chic, mit dem solche Bauvorhaben beworben werden: Jetzt, mit Posener im Sinn, kann man das Gebäude als flüchtige Anleihe an den Royal Crescent im britischen Bath (gebaut von 1767 bis 1775) einteilen.
Posener listet das Gebäude in Sommerset als frühen Teil bürgerlicher Wohnstätten auf, als Bemühung der „Spekulationsarchitekten“, die Monotonie der Typenhäuser zu brechen. Auch erwähnt er, dass dem Original ein Reisender 1826 eine seine wenigen Injurien hat zuteilwerden lassen, für eine „typisch englische Geschmacklosigkeit“ habe er den Royal Crescent gehalten, denn der Besucher, niemand anders als Karl Friedrich Schinkel, lehnte künstliche Raumbildung ab.
Und schon sind wir mittendrin in einer sozialhistorischen Diskussion, mit der Julius Posener die bürgerliche Architektur als „Neue Architektur“ auffaltet: im Zusammenwirken politischer, kultureller und ökonomischer Phänomene nämlich, ausgehend von der Französischen, aber auch der industriellen Revolution; als Ausdruck von Kultur und deshalb auch nur durch sie zu verstehen: Posener analysiert die Stilformen, Trägerkonstruktionen oder Raumplanung vor dem Hintergrund politisch-ökonomischer Entwicklungen, aber auch immer wieder durch das Raumverständnis von Goethe oder Wagner.
Nicht weniger interessant ist es zu verstehen, unter welchen Umständen Posener diese Vorlesungen hielt und welchen Lebensweg er zu diesem Zeitpunkt schon beschritten hatte: 1904 in Groß-Lichterfelde in eine bürgerlich-jüdische Familie geboren, später Schüler von Hans Poelzig an der Technischen Hochschule in Berlin, floh er vor den Nazis nach Paris und schließlich nach Palästina.
Hier trat er der britischen Armee bei, zog nach dem Krieg nach London, unterrichtete Architektur in Kuala Lumpur, bis er 1961 dem Ruf auf den Lehrstuhl für Baugeschichte der Hochschule für bildende Künste zurück nach Berlin folgte. Die fünfsemestrige Vorlesungsreihe schließlich fällt ziemlich genau in bleierne Jahre: Wirtschafts- und Sinnkrise machten der Architektur in den 1970er Jahren zu schaffen, die großen Vorbilder Le Corbusier oder Mies van der Rohe waren tot, und ihre Schüler, etwa Frank Gehry, wendeten sich gegen ihre Lehrer – die Annäherung an die Kunst steckte noch in Kinderschuhen. Der Kunsthistoriker Philip Ursprung beschreibt diese Periode als Zeitraum des „Atemholens der Architektur“ im Umbruch zum Künstler- und Stararchitekten des Postfordismus.
Umso erstaunlicher ist, dass der Begriff des Politischen bei Posener nicht moralisch grundiert, sondern eben analytisch ist: Posener ist ein Lehrender, aus seinem Blick ist „die Geschichte der Architektur […] ein Niederschlag der Gesellschaftsgeschichte, ist Überbau, wenn Sie wollen.“ Mit vielen seiner Ausführungen – alleine die Erörterung des auch zukunftsorientierten Blickes des Wilhelminismus, abgelesen an Säulenstrukturen, ist ein Kleinod – entsprach er wohl weniger den Vorstellungen der Studierenden. Dem Vorwort kann man entnehmen, dass aus den Hörsälen offenkundig ein schematischer Marxismus auch bis in die Redaktionsräume der Arch+ gewuchert war.
Posener blieb davon unbeirrt und wies in der von Frankreich ausgehenden Revolutionsarchitektur oder der radikalen Umgestaltung von Paris auf soziale und politische Ideologeme hin, aber auch auf technische Entwicklungen: Schließlich wendeten sich Planer und Auftraggeber dem Eisen und dem Architekten als Ingenieur zu, während Le Corbusier oder Bruno Taut wieder Beaux-Arts-Züge entwickeln konnten.
So gesehen hätte Julius Posener, der 1996 in Berlin starb, der Investorenlogik in Berlin, jener „Architektur der Zweckmäßigkeit“, mit der David Chipperfield die Wohnstätten der neuen Bürgerlichkeit umreißt, vermutlich kühl gegenübergestanden und hätte ihre utopielose Ausdrucksform als logisches Derivat sozialer Grenzziehungen beschrieben.
■ Julius Posener: „Vorlesungen zur Geschichte der Neuen Architektur“. Band 1: 232 St. (372 Abb.), 24 Euro; Band 2: 368 St. (580 Abb.), 39 Euro. Verlag Arch+, Aachen