ÖSTERREICH SCHEINT FÜR EINE GROSSE KOALITION ZU POLARISIERT : Politik der bitteren Gefühle
Zu den kulturpessimistischen Standards zählt das Lamento, dass sich die großen politischen Lager programmatisch immer mehr angleichen, geradezu ununterscheidbar werden. Dies muss jedoch nicht unbedingt dazu führen, dass die politische Welt spannungsärmer oder weniger ressentimentgeladen würde, wie man in Österreich sieht.
Dort war die Rechtskoalition unter Volksparteichef Wolfgang Schüssel Anfang Oktober abgewählt worden, stattdessen wurden die Sozialdemokraten (SPÖ) mit ihrem bislang recht glücklosen Vormann Alfred Gusenbauer überraschend stärkste Partei. Eine Regierungsbildung ist nun tricky, da sich die Rechtsnationalen in das Bündnis Zukunft Österreich (BZÖ) und die alten Freiheitlichen (FPÖ) gespalten haben und jetzt fünf Parteien im Parlament sitzen. Rot-Grün hat ebenso wenig eine Mehrheit wie ÖVP und BZÖ. Und mit der rechten Kerntruppe, der FPÖ, will niemand koalieren.
So schien eine große Koalition der alleinige Ausweg. Übrigens spricht nicht nur der Mangel an realistischen Alternativen für diese Variante: Das Publikum hat genug von Experimenten. Die bisherige Rechtsregierung hat das Klima vergiftet und das Land polarisiert. Eine gewisse Phase der Konsensproduktion müsste da nicht unbedingt schaden.
Aber gerade die Polarisierung scheint eine große Koalition unmöglich zu machen. Die Spitzenrepräsentanten von SPÖ und ÖVP hassen sich regelrecht. Zudem besteht das ÖVP-Verhandlungsteam vor allem aus jenen Männern und Frauen, die das Land bisher recht selbstherrlich regierten – und denen es schwerfällt, diesen Absturz zu verdauen. Jetzt haben sie die Einsetzung zweier parlamentarischer Untersuchungsausschüsse durch SPÖ, Grüne und FPÖ genutzt, die Gespräche auszusetzen. Schon wird die Möglichkeit einer SPÖ-Minderheitsregierung erwogen, mit der Perspektive von Neuwahlen innerhalb weniger Monate.
Das wäre für die ÖVP freilich eine noch unattraktivere Variante – SPÖ und Grüne würden wohl deutlich zulegen. Möglich, dass diese Aussicht die Volkspartei doch noch in die ungeliebte Koalition zwingt. ROBERT MISIK