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Archiv-Artikel

Furor, Fouls und Fehler

Ein Spiel im Elektrizitätswerk: Chelsea erteilt dem FC Barcelona in der Champions League eine Lektion in Sachen Schnelligkeit. Der Titelverteidiger aus Spanien ist nur noch ein gewöhnliches Spitzenteam

AUS BARCELONA RONALD RENG

Italienisch lässt sich auch ohne ein einziges italienisches Wort sprechen. Frank Rijkaard, der niederländische Trainer des FC Barcelona, stand an der Seitenlinie in Barcelonas Camp Nou. Das Spiel, wild und überwältigend, war erst Sekunden vorüber. Er fixierte den italienischen Schiedsrichter Stefano Farina und schlug mit der linken, flachen Hand auf den rechten Vorderarm. 90.000 Zuschauer und ein Schiedsrichter verstanden recht gut, was Rijkaard mit seiner Handbewegung in etwa sagen wollte: „Du hirnloser Trottel.“

Wenn am Ende der Schiedsrichter schuld sein soll, ist das meistens ein eindeutiges Zeichen, dass etwas mit der eigenen Mannschaft nicht stimmt. So war es in der Dienstagnacht, als der Titelverteidiger FC Barcelona im neuesten Klassiker der Champions League gegen den englischen Meister FC Chelsea in der dritten Minute der Nachspielzeit den 2:2-Ausgleich durch Didier Drogba hinnehmen musste und nun wohl im abschließenden Vorrundenspiel am 5. Dezember mit Werder Bremen um den zweiten Qualifikationsplatz hinter Chelsea kämpfen muss.

So ein Pech, heißt es reflexartig, wenn einer Elf ganz zum Schluss der Sieg genommen wird. Aber es ist keine Frage des Glücks. Wer wie Barça in der 93. Minute Chelseas Michael Essien unbedrängt durchs Mittelfeld ziehen und flanken lässt, darf einzig die eigene Fahrlässigkeit verantwortlich machen. Barça, das vergangene Saison auf ungekannte Weise Schönheit und Erfolg einte, hat sich im Herbst danach ein Stück weit von der Außergewöhnlichkeit entfernt.

Barça ist wieder eine ganz normale Spitzenelf, Tabellenführer in Spanien, in Europa momentan jedoch nicht Erster unter Gleichen, wie Rijkaard generös zugibt: „Die Besten zurzeit sind Olympique Lyon.“ Die Partie gegen Chelsea lieferte ein exaktes Röntgenbild des immer noch tollen, aber gelandeten Barça.

Es war ein Spiel im Elektrizitätswerk, unter der Aufschrift „Achtung: Hochspannung“. Ein Spiel mit viel zu viel Furor, wilden Fouls, überbordender Lust auf Revanche, bösen Fehlern, aber dazwischen immer wieder Momenten schierer, überwältigender Klasse, allen voran das Tor zum 1:1 von Chelseas Kapitän Frank Lampard. Einen einzigen Meter vor der Torauslinie, acht Meter links vom Tor, drehte er sich um die eigene Achse und hob den Ball aus totem Winkel ins entfernte Toreck. Die, die machtlos erleben, wie ihr Gehirn gegen ihren Willen Details von Fußballspielen speichert, werden dieses Tor für immer bewahren. Doch es ist noch immer Barça, das die Magie hütet. Die Tore von Deco und Eidur Gudjohnsen nach bahnbrechender Vorarbeit von Ronaldinho waren Meisterstücke.

Allein, die Wunder bleiben derzeit Bruchstücke, sie bilden kein Gesamtwerk mehr. Irritierend viele Fehler, etliche von Ronaldinho, hemmen den Fluss. Chelsea – bei denen Michael Ballack so emsig wie unglücklich agierte – war nicht besser. Aber in puncto Geschwindigkeit erteilten sie Barça eine Lektion.

Der Sommer lastet noch immer auf ihnen. Die Spieler, die bei der WM in Deutschland auftraten, verpassten das Trainingslager. Dann schickte sie der Klub direkt auf eine Schautournee nach Amerika. Irgendwo in Mexiko klagte Stürmer Samuel Eto’o, er könne nicht mehr schlafen bei der Hatz durch die Zeitzonen. Als die Saison begann, hatten Spieler wie Ronaldinho oder Deco ganze fünf Trainingseinheiten absolviert. Wann wird endlich der erste Spieler aufstehen und sagen, ich mache diese irrsinnigen Schautourneen nicht mit, kürzt mir dafür gerne auch das Gehalt?

Sie haben das Problem erkannt, wenngleich spät. Nun setzen die Unvorbereiteten wie Ronaldinho sogar bei Pokalspielen aus, um in speziellen Trainingscrashkursen der verlorenen Schnelligkeit hinterherzujagen. Zu spät? Frank Rijkaard, sein Körper ein Beben, baute sich nach Abpfiff vor dem Schiedsrichter auf und schrie auf ihn ein. Und, ohne ein Wort zu verstehen, konnte ein jeder erkennen: Nicht wie schlecht der Referee gewesen war, sondern wie sehr der verlorene Sieg am Trainer zehrte. Seine Spieler dagegen stieß Rijkaard grob vom Referee weg. Den knöpfe ich mir vor, hieß das. Nur Carles Puyol ließ sich nicht wegdrängen. Bedrohlich schritt Barças Kapitän auf Farina zu und erreichte sein Ziel – sich artig beim Schiedsrichter zu bedanken.