Die eigene Vergangenheit verstehen

THEATER IN BURKINA FASO Der alltägliche Wahnsinn des Geldverdienens und Kinder, die zu Mördern werden – harte und realitätsnahe Themen auf dem Theaterfestival „Récréatrâles“ in Ouagadougou. Ein ganzes Stadtviertel wurde mit Straßen und Hinterhöfen zur Bühne

Drei Frauen reflektieren, wie sie zu Henkerinnen werden konnten, im Stück des nigerianischen Regisseurs Edouard Lompo

VON DOROTHEA MARCUS

„Garantiert ohne Sand“ steht auf dem Sojabohnen-Päckchen, und das lässt vermuten, dass das keine Selbstverständlichkeit ist. Adama, der die Päckchen auf seinem Tresen in Ouagadougou, Burkina Faso, anbietet, hat seinen Imbiss „Soja Delices“ vor drei Wochen geöffnet, er verkauft Sojaragout, Sojaburger und Sojaspieße. Am Anfang war der mintgrün gestrichene Imbiss, der sich so schön abhebt vom roten afrikanischen Sand, gähnend leer. Soja in Afrika? Damit könnte man viele Hungerkrisen bekämpfen, doch die asiatische Bohne hat hier keine Tradition. Doch jetzt läuft es nicht schlecht, täglich verkauft er mehr Sojaspieße.

Denn sein Imbiss steht am Eingang des Viertels Gounghin Nord, ein kleines Stadtviertel von Ouagadougou, und lockt täglich weiße Festivalbesucher an, die dort das gerade stattfindende Theaterfestival „Récréatrâles“ besuchen. Gerade mal 447 Dollar pro Kopf beträgt das Bruttoinlandsprodukt in Burkina Faso, die Lebenserwartung liegt bei rund 48 Jahren. Hunger, Malaria, Durst sind an der Tagesordnung, obwohl das Land seit 24 Jahren friedlich von einem einzigen Präsidenten regiert wird.

Und doch gehört Burkina Faso zu den afrikanischen Ländern mit dem reichsten Kulturleben. Hier findet Afrikas größtes Filmfestival Fesbaco alle zwei Jahre statt und das Operndorf, das Christoph Schlingensief geplant hat, wird rund 35 Kilometer vor den Toren der Stadt gebaut. Burkina Faso verfügt auch über vier Theater, rund 35 Theatergruppen – und ein Theaterfestival, das sich neu strukturiert hat. Zwar gibt es „Récréatrâles“ schon seit 2002, doch erst in diesem Jahr wurde es durch Mittel der Prinz-Claus-Stiftung für Kultur und Entwicklung, des Goethe-Instituts und von französischen Kulturinstituten neu aufgestellt.

Die Straßen von Gounghin geschmückt

Über fünf Monate haben sich Bühnenbildner, Regisseure, Schauspieler und Autoren versammelt, gearbeitet, und dieser kreative Dialog vor Ort unterscheidet „Récréatrâles“ von anderen afrikanischen Theaterfestivals. Neu ist auch die Integration ins Stadtviertel in der Zeit der Produktion und während der zehn Aufführungstage im November. Zum ersten Mal sind die Spielorte in die Höfe von vier ansässigen Familien verlegt worden. Tagelang wurden drei Straßenzüge, die sonst mit Plastikmüll übersät und unbeleuchtet sind, von einem Team aus 25 lokalen und internationalen Bühnenbildnern für das Festival ausgeschmückt, mit Skulpturen aus Blech, Girlanden, Lampions.

So ist eine Oase im Stadtstress von Ouagadougou entstanden. Trotz der stattlichen 500 Francs Eintritt – umgerechnet 75 Cent und dennoch ein Vermögen – strömen die Bewohner von Gounghin und ihre Kinder abends in die acht Theaterbühnen unter freiem Himmel. Das Viertel zu beteiligen war dem Leiter des Festivals, dem Schauspieler und Regisseur Etienne Minoungou, sehr wichtig. Er möchte aus den „Récréatrâles“ einen Motor und einen Spiegel des zeitgenössischen afrikanischen Theaterschaffens machen, er hat in diesem Jahr erstmals rund 200.000 Euro Budget dafür. Rund 14 Uraufführungen sind so entstanden, dazu wurden noch etwa 10 Stücke aus Nord- und Südafrika geladen.

Die Themen haben viel mit afrikanischer Realität zu tun, behandeln Folter, Krieg oder den täglichen Wahnsinn des Geldverdienens auf der Straße, wenn man malariakranke Kinder zu Hause und kein fließendes Wasser hat. Oder gleich gar keine Familie. In „Fatma“ aus dem Senegal erzählt eine alleinstehende, kinderlose Putzfrau (die grandiose Schauspielerin Rachida Amaouche) mit Ironie und tapferem Witz, wie ihre Hoffnungen auf Familie an der Realität zerschellten – und beschreibt ihren brutalen afrikanischen Alltag so konsequent, naiv und trotzig als „schönes Leben“, dass ihre mittellose Einsamkeit umso stärker berührt.

Überhaupt ist auffällig, dass sich in vielen Stücken Afrikaner nicht als Opfer darstellen, sondern als Täter untersuchen. In „Incessants“, „Die Unaufhörlichen“, des haitianischen Regisseurs Patrick Joseph, beschreibt ein Straßenjunge im Krankenhaus, wie er zum Mörder wurde. Die schmale Schauspielerin Iramène Destin trägt viel zu weite Hosen in der Rolle des Jungen. In dessen Kopf hallen die Stimmen nach, die ihm Schimpfworte nachrufen. Seine Wut auf die Verhältnisse spürt man körperlich, wenn Destin zwischen den Bretterarrangements im Staub des Innenhofs umherirrt.

Verbrechen, die kaum zu erinnern sind

Auch das „Herz der Leopardenkinder“ erzählt von einem jungen Mörder auf einer Polizeiwache. Zusammengeschlagen und gedemütigt erinnert er sich kaum noch an sein Verbrechen. In der Verlassenheit der Gefängniszelle überfallen ihn Erinnerungen und die Stimmen der Ahnen, die ein Afrika beschwören, das von Ehre, Stolz und magischer Kraft handelt und nicht von der Erniedrigungen der Gegenwart. Der Roman des kongolesischen Autors Wilfried N’Sonde, der heute in Berlin lebt, erregte 2008 Aufsehen und wirft einen ungewöhnlichen Blick auf Migrantenschicksale.

Die Brüder Criss und Dieudonné Niangouna haben ihn nun für die Bühne adaptiert, Criss spielt die Hauptfigur. Sein Bruder Dieudonné ist so etwas wie der heimliche Star der „Récréatrâles“. Auf dem Festival von Avignon wurde der Autor, Regisseur und Schauspieler schon 2007 entdeckt und fällt auf durch die radikale Thematisierung des Migrantendaseins – die Erwartungen der Europäer sind hoch. Auf der Bühne kämpft sein Bruder allerdings sehr reizarm mit den Textmassen. Ein Schauspieler im Licht sitzt auf einem weißen Gipswürfel, ringt mit den Worten und Erinnerungen, die Stimmen der Ahnen kommen blechern vom Band. Der Text jedoch ist atemberaubend, diese Inszenierung wird mit großer Sicherheit ihren Weg in die europäischen Netzwerke gehen.

Im Stück „Rencontre avec une potence“ hat sich der nigerianische Regisseur Edouard Lompo, der eigentlich Literaturlehrer ist, mit Frauen beschäftigt, die während des Kriegs zu Henkerinnen werden. Das Stück ist eine beeindruckende Performance mit Tanz und Sprache, bei der drei Frauen philosophieren, wie es mit ihnen so weit kommen konnte, wo ihre Mütterlichkeit, ihre Emotionen, ihre Weichheit geblieben sind. Manchmal reißen sie auch derbe Witze darüber. „In Niger gab es im letzten Jahr vielleicht eine Theateraufführung“, erzählt der Regisseur Edouard Lompo, „ohne das Festival würde es mein Stück nicht geben.“ Hier in Gounghin traf er zwei der drei Darstellerinnen und konnte wochenlang mit ihnen arbeiten, hier verkauft er sein Stück, ein schmales Heft, auch vor der Vorstellung.

Zwar besteht fast die Hälfte der Stücke des Festivals aus Monologen. Bei der anderen Hälfte fällt dagegen die die formale Vielfalt auf: Es gibt Singspiele wie „Zakata“, wo sieben afrikanische Frauen in fröhlichen, kräftigen und melancholischen Gospelsongs von ihren untreuen und brutalen Ehemännern singen und ihnen die eigene Stärke so entgegenhalten. In „Kubidu Abanda“ des burkinischen Regisseurs Ildevert Méda handelt eine Theatergruppe in der Theatergruppe metaphorisch die afrikanische Korruption ab: Der Regisseur lässt selbstherrlich die Unterstützung aus dem Westen in die eigene Tasche fließen.

Bei allen zeitgenössischen Themen, die behandelt werden – das Risiko, dass hier vor allen Dingen für europäischen Geschmack produziert wird und afrikanische Traditionen negiert werden, lauert doch manchmal. Rund 40 angereiste Kuratoren aus Europa, aus Avignon, Wien, Brüssel und Limoges lassen sich täglich im Bus vom luxuriösen Ran-Hotel mit Swimmingpool ins kleine Gounghin fahren. Ihre Einladung liegt dem Leiter des Festivals, Etienne Minoungou, am Herzen, sie sind das Bindeglied für eine internationale Öffnung, die so wichtig ist wie die regionale Anbindung.

Risiko Anpassung

Peinlich berührt etwa das Tanzstück „Dans un s’y mettre“ von Auguste Ouedraogo und Bienvenue Bazié, wo drei kräftige afrikanische Tänzerinnen verzweifelt bemüht sind, europäische Tanzstile anzunehmen, die Bastkörbe auf ihren Köpfen wirken wie Alibis. Eine schwierige Gratwanderung ist auch „Petite Fleur“ (Kleine Blume). Die kamerunische Schauspielerin Yaya Mbilé erzählt im Text von Fargass Assandé von einem drastischen sexuellen Missbrauch durch ihren Bruder. Sie sitzt auf einem elektrischen Stuhl, hat ihren Bruder längst umgebracht, steht kurz vor dem eigenen Tod. Doch ihr Tonfall ist so weinerlich-pathetisch und unauthentisch, die sexuellen Details so drastisch, dass es fast obszön wirkt und einen peinlich berührt. Doch, hört man von anderen Festival-Besuchern, muss es in Afrika als sensationell gewertet werden, das Thema Missbrauch überhaupt auf die Bühne zu bringen.

Die Frage, wie man der wohlmeinenden Exotikfalle und dem kolonialistisch verbrämten Blick entgehen soll, jenem gönnerhaften Gedanken, „für Afrika ist das doch jetzt gar nicht schlecht“, diese Frage ist Leiter Etienne Minoungou wohl bekannt. Als Antwort auf sie hat er sein Residenzfestival entwickelt: „Nur wenn die Arbeitsbedingungen gut sind, kann ein Künstler seinen persönlichen Blick auf die Welt entwickeln. Und der kann dann jeden interessieren – ob Afrikaner oder Europäer.“