: Beichte aus Berlin
Im Bundestagswahlkreis 020 Hamburg-Altona ziehen die Abgeordneten Olaf Scholz (SPD) und Marcus Weinberg (CDU) die erste Jahresbilanz einer Großen Koalition, die beide nicht wollten
VON SVEN-MICHAEL VEIT
„Die Große Koalition, tja“, sagt Marcus Weinberg, „da kommt ja nicht nur Freude auf.“ 70 Köpfe im Saal nicken erwartungsgemäß, der Einstieg scheint gelungen. Er könne jetzt sagen, fährt der CDU-Bundestagsabgeordnete an diesem regnerischen Dienstagabend fort, „dass der Wähler es so gewollt hat, aber so einfach möchte ich es Ihnen und mir nicht machen“. Aus der Parteibasis im gediegenen Restaurant Teufelsbrück direkt an der von Villen gesäumten Elbchaussee dringt Gegrummel. Weinberg zuckt kurz. Das war wohl nicht so geglückt.
24 Stunden später steht der Sozialdemokrat Olaf Scholz in der Aula einer Hauptschule im sozialen Brennpunkt Altona-Nord. „Die CDU wollte diese Koalition nicht, wir auch nicht“, sagt er, „das Ergebnis aber war so.“ Jetzt würde diese Regierung eben „gemessen an dem, was sie leistet“. Keine Reaktion unter den 20 Menschen auf den harten Schulstühlen. Hier im zweitärmsten Stadtteil im Wahlkreis, hinter dem benachbarten Altona-Altstadt (siehe Kasten), hat Scholz, Schröder-Freund und einer der Hauptautoren der Agenda 2010, kein Heimspiel.
Die Jahresbilanz einer Regierung, die niemand wollte, präsentieren Weinberg und Scholz dieser Tage in ihrem Wahlkreis, und viel Beifall erwarten sie nicht. Die Erhöhung der Mehrwertsteuer ist eines der Themen, für das sie am heftigsten gescholten werden vom Publikum. Und für die Gesundheitsreform, an beiden Abenden das zentrale Thema, erst recht.
„Viele von Ihnen werden da als Privatversicherte ein Unwohlsein haben“, vermutet Weinberg mit fragendem Blick. Er liegt richtig. „Ich weiß nicht, ob jemand hier vielleicht privat versichert ist?“, fragt Scholz, und erntet einmütiges Kopfschütteln.
Und dann erklären beide, warum die Gesundheitsreform zwar „Schwächen“ habe, für die aber der andere Koalitionspartner verantwortlich sei, insgesamt aber „so schlecht nicht ist“. Sie erklären es lange, sie erklären es ausführlich, so recht verständlich machen beide sich nicht.
Weinbergs Publikum versteht in erster Linie, dass es keine Vorteile haben werde. Es sind fast ausschließlich Parteifreunde aus den CDU-Ortsvereinen der drei wohlhabendsten Stadtteile Altonas hier, Weinberg aber besteht darauf, „dass ich als Abgeordneter nicht einseitig einer Gruppe nachgeben darf“. Er müsse doch „das große Ganze im Auge haben“.
Scholz versichert seinen Zuhörern, „dass viele Leistungen erheblich ausgeweitet werden“ und erntet einen zweifelnden Zwischenruf. „Das können Sie mir glauben“, beharrt Scholz. „Politiker und ehrlich? Das lassen Sie mal“, lautet die resignierte Antwort. „Ich bestehe darauf“, sagt Scholz, „dass ich es bin.“
Zum dritten Mal hat der 48-jährige Arbeitsrechtler vor einem Jahr das Direktmandat in Altona gewonnen. Mit 45,9 Prozent Erststimmen lag er über zehn Prozent vor seiner Partei und zwölf Prozent vor Weinberg, der über die CDU-Landesliste neu in den Bundestag kam.
Überall im Wahlkreis, der sozial gespalten ist wie kein anderer Hamburger Bezirk, fiel die Zustimmung für Scholz höher aus als die für seine Partei. In den noblen Elbvororten, wo die CDU meist weit vor der SPD liegt, in den Großraumsozialsiedlungen Lurup und Osdorfer Born ohnehin, in den Problemstadtteilen Altstadt und Nord, wo die Linke teils zweistellige Ergebnisse einfuhr, ebenfalls und auch im alternativ-intellektuellen Milieu im sanierten Altbauviertel Ottensen, wo die Grünen locker die 30-Prozent-Marke nahmen. Der Jubel über Schröder & Joschka aber war sehr verhalten vor einem Jahr. Der über Merkel & Münte jetzt fällt aus.
Das bekommen sie beide nachhaltig zu spüren, Weinberg wie Scholz, wenn sie durch Altona ziehen und die Große Koalition in Berlin zu „einer historischen Chance“ erklären. 64 Veranstaltungen weist der Terminkalender von Weinberg seit dem 1. Januar aus. Vor CDU-Ortsvereinen erstattet er „Berichte aus Berlin“, diskutiert mit Gymnasiasten und der Gebäudereinigerinnung, nimmt in Bürgersprechstunden Sorgen und Nöte zur Kenntnis und schüttelt Hände auf dem Sommerfest einer Seniorenresidenz.
Auf mehr als 100 Termine kommt Olaf Scholz in Betrieben und Schulen, Jobcentern, Bürger- und Sportvereinen. Jeden Monat hat er ein Bürgergespräch mit 40 bis 80 Interessierten in einem der zwölf Altonaer Stadtteile, ebenso häufig moderiert er seinen „Talk in Altona“ mit einem Stargast. Gesine Schwan, Andrea Nahles oder Sigmar Gabriel präsentierte er hier in diesem Jahr, vorige Woche drängelten sich 150 Menschen im Großen Saal des Altonaer Rathauses, um an einem Freitagabend mit SPD-Finanzminister Peer Steinbrück zwei Stunden lang über „Nachhaltige Finanzpolitik“ zu debattieren.
Für den nächsten Talk in drei Wochen zieht Scholz sogar ins Altonaer Kulturzentrum „Fabrik“. 300, vielleicht auch 500 Zuhörer erwartet er da, „und bestimmt nicht nur Fans“. Das kann gut sein. Denn der Stargast, der dann die Vorzüge von Großer Koalition und Gesundheitsreform erklären muss, heißt Ulla Schmidt.