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Archiv-Artikel

Der beschreibende Dichter

Wie der Blick des Beobachters fremde Kulturen definiert: Zum Tod des großen Anthropologen Clifford Geertz

Ihm gehe es nicht um Gesetze und Einfachheit, schrieb Clifford Geertz 1973 in „The Interpretation of Culture“, sondern um Komplexität: „Strebt nach Komplexität und ordnet sie!“, lautete die Maxime seiner Forschungsarbeit. Sein Misstrauen gegen verallgemeinernde Reduktionen, mit denen Sozialwissenschaftler – dem Vorbild von Naturwissenschaftlern folgend – gerne nach universell geltenden Gesetzen suchen, teilte Geertz mit dem Ethnologen Claude Lévi-Strauss. Dagegen setzte er sein Prinzip der „interpretativen Ethnologie“.

Geertz verstand Kultur als von Menschen geschaffenes „Bedeutungsgewebe“ aus Ritualen, Symbolen, Handlungen und Gesten. Diese „kulturellen Systeme“ erschließen sich nicht automatisch durch Beobachtung, sondern bedürfen einer interpretierenden Deutung, um verstanden zu werden. Dabei sei es wichtig, fremden kulturellen Praktiken nicht einfach die eigene Begrifflichkeit überzustülpen, wie dies früher in der Ethnologie so oft der Fall war, postulierte er in seiner wichtigsten theoretischen Arbeit, die 1983 unter dem Titel „Dichte Beschreibung“ auf Deutsch erschien. Vielmehr müsse es dem Forscher darum gehen, kritische Distanz auch zu sich selbst zu wahren und die eigenen Begriffe einer kritischen Interpretation zu unterziehen.

Berühmt wurde Geertz durch seine Interpretation des „Balinesischen Hahnenkampfs“, den er als Metapher für gesellschaftliche Zusammenhänge las. In diesen quasisportlichen Ritualen sah er nicht nur ein öffentliches Schauspiel, sondern „ein Mittel, etwas von etwas auszusagen“: ein System symbolischer Bedeutungen, mit denen Gesellschaften wie Individuen sich selbst deuten und darstellen.

Clifford Geertz, 1926 geboren, studierte nach dem Zweiten Weltkrieg in San Francisco, später in Harvard beim Soziologen Talcott Parsons. Er und Max Weber, der die Soziologie als historisch-hermeneutisch verstehende und nicht als kausal erklärende Wissenschaft verstand, gehörte zu den Wissenschaftlern, die Geertz am stärksten beeinflusst haben. Nach dem Abschluss des Studiums 1958 lehrte Geertz nacheinander in Berkeley und Chicago, ab 1970 in Princeton.

Zusammen mit seiner Frau Hildred Storey unternahm er Forschungsreisen, die ihn etwa nach Marokko und Indonesien führten. Noch heute aktuell ist seine Studie „Islam Observed“ von 1968. Darin verglich er religiöse Praktiken in Marokko und Indonesien und legte dar, warum das Gerede von „dem Islam“ als monolithischer und statischer Kultur wenig Sinn macht: eine Erkenntnis, an die heute wieder erinnert werden muss. Und von der zentralen Rolle, die dem Blick des Beobachters bei der Erforschung fremder Kulturen zukommt, handelte sein Buch „Die künstlichen Wilden“, indem er berühmte Anthropologen-Kollegen wie Bronislaw Malinowski und Ruth Benedict als Schriftsteller porträtierte.

Geertz’ Ansatz, kulturelle Praktiken als Codes zu lesen und zu dechiffrieren, fand in den Achtzigerjahren weit über sein Fachgebiet hinaus Resonanz, etwa in der Geschichtswissenschaft, in der Anthropologie, in der Philosophie sowie in der Kunst- und Literaturwissenschaft. Wie erst jetzt bekannt wurde, ist Clifford Geertz am 30.Oktober in Philadelphia gestorben. RUDOLF WALTHER