Flugzeug nach Mallorca

Tschechows „Drei Schwestern“ träumen vom tätigen Leben und stranden in Antriebslosigkeit. An der Berliner Schaubühne will Falk Richter daraus Funken für die Angst vor dem Ende der Arbeit schlagen

VON CHRISTIANE KÜHL

Ein Stück zu inszenieren, dessen zentraler Satz ein emphatisches „Nach Moskau!“ ist, ist dieser Tage eine besondere Herausforderung. Nach allem, was man in letzter Zeit von Moskau hört, will da ja kein integrer Mensch mehr hin. Als Tschechows „Drei Schwestern“ vor gut 100 Jahren begannen, all ihre Sehnsucht auf die russische Hauptstadt zu projizieren, sah es dort natürlich noch ganz anders aus – wobei es letztlich egal ist, wie es da wirklich aussah, denn das Moskau, nach dem sich die Schwestern verzehren, war nie sozioökonomische Möglichkeit, sondern immer Fluchtpunkt. Alles, nur nicht die Provinz, in der sie leben. Die Versteppung, die ihre Seelen vertrocknet.

Wie Wespen im Herbst wissen die Generalstöchter, dass ihre Zeit abläuft und nur eine Chance bleibt. Die könnte Liebe heißen, doch dafür ist es mit 25 zu spät; so konzentriert sich nun alles auf Aufbruch. „Arbeit“, sagt Irina, „wird uns retten.“

Der Autor und Regisseur Falk Richter hat eine eigene Neufassung von Tschechows „Drei Schwestern“ an der Schaubühne inszeniert, wo er seit dieser Spielzeit Hausregisseur ist. Offensichtlich war es die Idee der Arbeit als Allheilmittel, die ihn an dem Text heute interessierte: Ist Arbeit Voraussetzung für ein sinnerfülltes Leben? Und wenn ja, was bedeutet das für eine Gesellschaft, in der systembedingt immer weniger gearbeitet wird? Das Motiv ist naheliegend, um das Stück näher an unsere Gegenwart zu drehen, doch geht die Gleichung nicht auf.

Tschechows Drama ist ein Drama der Passivität; eine privilegierte Kaste träumt darin emphatisch vom tätigen Leben und bleibt doch in Bequemlichkeiten und der eigenen Antriebslosigkeit gefangen. Keine zwanzig Jahre später beginnt die Revolution. Wenn nun in der Schaubühne Irina Sachbearbeiterin beim Arbeitsamt wird und Menschen die Bezüge streicht, „weil das ’n Haufen Leute sind, die gar nicht arbeiten wollen, die hängen nur rum“ – dann hinkt auch der Vergleich.

Katrin Hoffmann hat der Aufführung eine interessante Bühne gebaut: Durch einen breiten Rahmen blickt man auf tiefergelegten, spärlich möblierten Raum. Nach der Pause, wenn die Akustik unablässig Flugzeuge starten lässt (nach Moskau? New York? Mallorca?), ist die Bühne ganz leer; nur die Figuren und ein schönes Spiel ihrer Schatten finden sich darauf verteilt. Zu diesem Zeitpunkt ist schon jeder eine Insel; gleich wird es einen Toten geben und der um altes Personal und alkoholkranke Müßiggänger erweiterte Familienkreis endgültig zerfallen.

Was sie zusammenhielt, wird indes nie ganz klar, selbst die durch elf Jahre tagtäglich im selben Salon erzwungene Vertrautheit ist nicht spürbar. Von Beginn an sitzen Irina (Jule Böwe), Mascha (Bibiana Beglau) und Olga (Steffi Kühnert) in Sesseln meterweit voneinander entfernt. Irina im Kleidchen ist süß, aber abgenervt; Olga im muffigen Akademikerpullunder frustriert und handfest; Mascha in schickem Schwarz kapriziös und kalt. Wie auch andere Mitglieder des erstklassigen Ensembles (mit Stipe Erceg und Clemens Schick als Gästen) bewahren sie eine leichte Distanz zu ihren maulenden Figuren, was im ersten Akt zu einiger Heiterkeit führt. Die Spätfolgen sind jedoch rechte Peinlichkeit: Wenn im dritten Akt, wo alles um das Haus herum niederbrennt, sich die Frauen auf dem Boden wälzen und aus dem tiefsten Inneren Schmerz hinausschreien, fragt man sich erstaunt, ob man zwischendrin was verpasst hat. Bis eben sah es jedenfalls mehr nach Midlife Crisis aus.

„Fressen, saufen, schlafen. Und Langeweile“, fasst Bruder Andrej das Leben zusammen. Interessant ist, wie gänzlich hohl auch die Utopien des Werschinin oder des idealistischen Barons Tusenbach von einem besseren Leben in einer „neuen Zeit“ klingen; dass „Krieg, Terror, Dummheit, Depression in 200 Jahren vorbei“ sein werden, glaubt heute selbst an der Schaubühne niemand mehr.