Kampf für die Bruchbuden

SOZIALER WOHNUNGSBAU Die Wohnblöcke am Kottbusser Tor sind ein Symbol für die missglückte Politik des Senats in den letzten Jahrzehnten. Mieter mit wenig Einkommen werden nicht geschützt – sondern verdrängt

„Aus heutiger Sicht sage ich: Je mehr städtische Wohnungen, desto besser. Und es ist unstrittig in der Linken, dass der Verkauf insbesondere der GSW ein Fehler war“

VON JULIANE SCHUMACHER

Gecekondu haben sie es genannt, das Zentrum der Mieterproteste am Kottbusser Tor. Gecekondu ist türkisch für „über Nacht errichtet“, so heißen die informellen Siedlungen in der Türkei. Bierbänke stehen vor dem Holzpavillon an der Südseite des Kottbusser Tors, davor ein paar Plastikstühle. Drinnen läuft laut Musik, wummernde Bässe. Mehmed Said Kavlak, 20 Jahre alt, sitzt am Tisch mit Freunden und lernt. Auf der Wachstischdecke haben die Schüler Ordner und Hefte ausgebreitet, die Abiturprüfung naht. In einer kleinen Küche kochen Frauen Tee und Kaffee.

An der Wand ein Plakat mit Fotos: die Kotti-Bewohner beim Transparentemalen, beim Singen, beim Feiern und Protestieren. Daneben hängen To-do-Listen, Telefonnummern und Termine für die nächsten Hausversammlungen – und eine riesige Karte des Gebiets, in dem die rund 6.000 Sozialwohnungen am Kottbusser Tor liegen: Unterschiedliche Farben ordnen die einzelnen Wohnblöcke den jeweiligen Immobiliengesellschaften zu, denen sie gehören. Die Häuser, in denen es jüngst Mieterhöhungen gegeben hat, sind mit Bleistift schraffiert.

Von Protest ist am Kottbusser Tor an diesem milden Frühlingsnachmittag allerdings nichts zu sehen. Der Putz bröckelt von den Fassaden, die Hochbahn dröhnt über Autokolonnen, im Café Südblock plätschert ein Springbrunnen zwischen kleinen Tischen. Pärchen und junge Frauen mit bunten Kopftüchern nippen am Kaffee, Lampions schaukeln in blühenden Zweigen.

Die beschauliche Stimmung trügt: Das Kotti ist ein umkämpftes Terrain, seit sich die Bewohner der umliegenden Wohnblöcke zusammengeschlossen haben und sich als Initiative Kotti & Co dagegen wehren, aus ihren Häusern verdrängt zu werden. Ausgerechnet die Mietblöcke rund um das Kottbusser Tor, einst ein Symbol für die architektonischen Folgen der Kahlschlagsanierung der 1980er Jahre, als man ohne Rücksicht auf den historischen Stadtgrundriss abriss und neu baute, sind nun ein Hotspot der Gentrifizierung: ein Symbol für die verfehlte Berliner Wohnungspolitik der letzten Jahrzehnte.

Milliardengrab für Berlin

Denn das Wohngebiet Kottbusser Tor liegen nicht nur mitten in Kreuzberg, wo die Mieten mit rund 25 Prozent bei Neuvermietungen im letzten Jahr im berlinweiten Vergleich am stärksten gestiegen sind. Die Wohnblöcke sind als sozialer Wohnungsbau errichtet worden – und der hat in Berlin seine ganz eigenen Probleme.

In den 1970er und 1980er Jahren als Wohnraum für Geringverdienende geschaffen, von zumeist privaten Investoren gebaut und mit öffentlichen Geldern finanziert, wurden die Sozialbauten als lukrative Anlage- und Abschreibemöglichkeit vor allem von wohlhabenden Westdeutschen genutzt, um Steuern zu sparen. Sowohl die Anleger als auch die Baufirmen profitierten daher von möglichst hohen Bausummen – was dazu führte, dass die Baukosten auf ein Vielfaches dessen stiegen, was auf dem freien Markt üblich und für einen durchschnittlichen Wohnstandard nötig gewesen wäre.

Die Mieten waren dennoch niedrig – weil das Land die Differenz zu der sogenannten Kostenmiete zahlte, die die Bauherren aufgrund ihrer hohen Investitionskosten berechneten, die sie geltend machten. Ein Milliardengrab für das Land Berlin. Noch dazu eines mit absurden Folgen für die Mieter: Denn die Mieten, die ja auf Grundlage der überhöhten Baukosten festgesetzt werden, stiegen über die Jahre nach einer zuvor festgelegten Berechnung allmählich an. Mit dem Ergebnis, dass heute eine Sozialwohnung in Berlin, anders als in allen anderen Bundesländern, teurer ist als eine vergleichbare Wohnung auf dem freien Markt.

Das ist auch am Kotti so, zum Beispiel bei Mehmed Kavlak, dem angehenden Abiturienten, der mit seiner Familie in der Admiralstraße wohnt. Vierter Stock, sauber geputzte Fassade von außen, die Wände innen in hellen Pastellfarben gestrichen. Auf dem Fußboden hat Kavlaks Vater helles Laminat verlegt, „der kann so was“, sagt sein Sohn stolz. Aber rund um die Fenster breiten sich dunkle Flecken aus: Schimmel, das Wasser läuft die Wände hinab, in allen Wohnungen darüber und darunter sei das so. Aus dem Bad dringt ein modriger Geruch – man kann die Tür nicht schließen, so stark ist er. Ein Fenster gibt es in dem kleinen Raum nicht, die Lüftung ist schon seit langem kaputt.

Rund 1.100 Euro Warmmiete zahlt die Familie für 92 Quadratmeter. Sie wohnen zu fünft, der Vater hat keinen Job, die Mutter war Krankenschwester in der Türkei, doch die Ausbildung wurde in Deutschland nicht anerkannt. Mehmed Kavlaks Bruder macht gerade die Prüfung zum Taxifahrer, seine Schwester geht noch zur Schule. Das Jobcenter übernimmt rund 780 Euro Mietkosten pro Monat. Den Rest zahlen die Kavlaks von dem Teil des Arbeitslosengelds, das eigentlich für die Lebenshaltungskosten gedacht ist.

An Investoren verschleudert

„Ich glaube, meine Eltern hatten schon lange Sorgen wegen der Miete“, sagt Mehmed Kavlak. Aber sie hätten nie über dieses Thema gesprochen. „Sie wollten uns damit nicht belasten“, glaubt der junge Mann. 2003 hatte der rot-rote Senat beschlossen, aus der Anschlussförderung für das System sozialer Wohnungsbau auszusteigen. Seitdem fallen sukzessive Wohnungen aus der Förderung heraus – und die Eigentümer der Wohnungen können die Miete bis zur Kostenmiete erhöhen (s. Text und Interview Seite 45).

Gleichzeitig werden die Belegungsbindungen gelöst – das heißt, am Kottbusser Tor braucht man keinen Wohnberechtigungsschein mehr, der Menschen mit prekärem Einkommen Anspruch auf eine Sozialwohnung gibt.

Dazu kommt, dass der Senat einen Großteil der landeseigenen Wohnungen an private Investoren verkauft hat, teils zu extrem niedrigen Preisen. Rund 120 Wohnungen am Kottbusser Tor gehören dem Unternehmen Hermes, rund 1.000 hält die GSW – ehemals ein landeseigenes Unternehmen, das gerade an die Deutsche Wohnen weiterverkauft wurde. Um Wohnungsnot machte sich 2003 noch niemand Sorgen. Billige Wohnungen, hieß es damals seitens des Senats, gebe es schließlich mehr als genug in Berlin.

Das ist jetzt, mehr als zehn Jahre später, anders. Billige Wohnungen gibt es in der Innenstadt keine mehr, und selbst in vielen Gebieten außerhalb des S-Bahnrings werden sie zur Mangelware. Wer in Berlin Geld vom Jobcenter bezieht oder über ein vergleichbar geringes Einkommen verfügt, finde in Berlin schlichtweg keine Wohnungen mehr, sagt etwa der Stadtsoziologie Andrej Holm.

Selbst die runtergekommenen Neubauten am Kottbusser Tor sind bei studentischen WGs und jungen Zuzüglern begehrt – und sie verdrängen die Familien, die oft seit Jahrzehnten in den Blöcken gewohnt haben. Das System sozialer Wohnungsbau mit all den komplexen Regeln für die Mieten, das einst dazu gedacht war, sozial schwachen Mietern Wohnraum zu verschaffen, hat sich ins Gegenteil verkehrt.

Auch in Kavlaks Haus sind die größten Wohnungen jetzt WGs. Gerade, sagt er, sei im ersten Stock ein alter Mann ausgezogen, der seit 30 Jahren dort gewohnt habe. Im Haus gegenüber, sagt eine Aktivistin im Gecekondu, seien von 40 Mietparteien noch jeweils fünf türkische und arabische Familien übrig. Um den Jahreswechsel 2012/13 unternahm die GSW einige Versuche, eine Familie zwangsräumen lassen – das es nicht klappte, ist auch den Kotti-&-Co-Leuten zu verdanken, die sich ab 2011 zur Initiative zusammenschlossen. Damals gab es eine erneute Mieterhöhung, und einige engagierte MieterInnen begannen eine Unterschriftensammlung. Das war zur selben Zeit, als in Ägypten die Protestierenden den Tahrirplatz besetzten und die arabische Revolution begann.

„Wir müssen den Kotti besetzen!“, rief damals kämpferisch eine ältere Dame auf einer der ersten Versammlungen, es gab Gespräche im Aufzug, im Café Südblock. Man fragte sich gegenseitig: Ist deine Miete auch gestiegen? Wie viel zahlst du eigentlich an Nebenkosten? Die ersten Demos und Aktionen folgten, das Protestzentrum Gecekondu, die Gründung einer eigenen Jugendgruppe.

Solidaritätsbekundungen aus Chile

Von überallher schlug den Mietenprotestlern Solidarität entgegen: In Chile hielten Protestierende bei Demonstrationen Plakate für den Kotti hoch, eine argentinische Künstlergruppe malte ein riesiges Wandbild auf die Rückseite des Café Südblock, auch Mehmed Kavlak ist darauf zu sehen. Seit drei Monaten treffen sich die Mieter zu Hausversammlungen, um gemeinsam zu planen, wie man gegen weitere Mieterhöhungen, gegen Verdrängung, vorgehen kann. „Wir haben uns hier schon immer gekannt“, sagt Kavlak. „Aber jetzt ist es nochmal etwas ganz Anderes – jetzt sind wir wie eine große Familie.“

Dieses Zusammengehörigkeitsgefühl ist auch zu spüren, wenn man am Nachmittag im Gecekondu sitzt. Alle paar Minuten kommt jemand herein, grüßt herzlich auf türkisch oder auf deutsch, wie geht es der Familie, habt ihr schon von diesem Termin gehört? Einmal pro Woche findet im Protestzentrum eine Sozialberatung statt. Mehrere Anwälte kümmern sich um die Anliegen der Mieter, die über die enorm hohen Nebenkosten klage, und über die baulichen Mängel, die oft über Monate nicht von den zuständigen Hausverwaltungen behoben würden.

Sein Herd sei kaputt gewesen, erzählt Ilgin Sedat. Er ist Taxifahrer und lebt seit fast 30 Jahren am Kotti, mit seiner Frau und seinen zwei Kindern, auf 87 Quadratmetern. Rund 1.000 Euro Warmmiete zahlt er dafür. Er schwärmt von früher, als die GSW noch ein landeseigenes Unternehmen war. Sauber sei es da gewesen in den Wohnblöcken, absolut korrekt und freundlich sei man als Mieter behandelt worden – ein Anruf, und sofort sei jemand gekommen, um Mängel zu beheben. Jetzt habe er Monate warten müssen, bis sich jemand gekümmert habe – und das auch erst, nachdem er zusammen mit über 100 anderen Mietern Anfang des Jahres kollektiv auf eigene Faust die Miete gemindert hatte.

Nicht nur er hat das Gefühl, dass es eine enorme Ungleichbehandlung gibt zwischen den Mietern. „Bei den Hausversammlungen ist ganz deutlich geworden, dass die deutschen WGs nur einmal anrufen müssen und es geschieht etwas – und bei den türkischen oder arabischen Familien wird oft monatelang gewartet“, sagt Tashy Endres. Die zierliche Frau erzählt von einer palästinensischen Mieterin, die monatelang mit einem Eimer gespült hat, weil ihr Klo nicht repariert wurde, „die hat drei kleine Kinder!“ Endres wohnt nicht am Kotti, sie hat nur ihr Büro hier, im Gecekondu. Sie ist eine der linken AktivistInnen, die auch Teil von Kotti & Co sind. Erst wollte sie nicht, „ich dachte, das ist nicht mein Protest“.

Aber dann, nach zwei Monaten, ist sie doch dazu gestoßen, ein Teil der Familie geworden. „Wir haben schon deshalb gewonnen“, sagt sie, „weil wir uns gefunden haben!“ Wenn sie vor dem Gecekondu sitzt, grüßt sie jeder, wechselt ein paar scherzende Worte mit ihr. Zwei junge Männer, blonde Locken, Hipster-Style, kommen heran. Sie wohnen seit kurzem in einer WG hier, nun wollen sie einen Workshop zu Urban Gardening organisieren. Endres schlägt vor, eine türkische Übersetzung für die Veranstaltung zu organisieren. Die WGs seien doch nicht das Problem, sagt sie, als die beiden davonschlendern, „das Problem sind die Mieten!“

Erreicht hat die Initiative eins: Öffentlichkeit. Viele der Mieter haben sich in das komplexe System sozialer Wohnungsbau eingearbeitet, das vielen Politikern über Jahre hinweg nur ein Augenrollen entlockt hat. Sie haben Konferenzen organisiert und Modelle entwickelt: Wie man die Blöcke am Kotti wieder in kommunales Wohneigentum überführen kann, wie die Mieter eingebunden werden können, wie soziale Mieten berechnet werden könnten.

Mieten steigen schneller, als die Politik reagiert

Sie haben das Problem des sozialen Wohnungsbaus wieder ins öffentliche Blickfeld gerückt und allein das ist ein Verdienst: Denn, das Beispiel Kottbusser Tor steht stellvertretend für rund 140.000 Sozialwohnungen in Berlin, für Hunderttausende Menschen, die mit demselben Problem konfrontiert sind – extrem steigende Mieten, und das ausgerechnet dort, wo diejenigen wohnen, die sich am wenigsten wehren können.

Von Öffentlichkeit allein allerdings lassen sich keine Wohnungen bezahlen – und die Mieten steigen schneller, als die Politik reagiert. Das Mietenkonzept, das SPD-Bausenator Michael Müller im vergangenen Jahr vorgestellt hat, setzt die Mieterhöhungen in den Großsiedlungen nicht aus, sie werden lediglich für vier Jahre aufgeschoben – um dann auf einen Schlag fällig zu werden.

Vielleicht werden die Wohnblöcke am Kotti tatsächlich ein Modellprojekt für neues Wohnen in der Stadt – irgendwann, in zehn Jahren. Nur von denen, denen es helfen sollte, in ihrem Kiez zu bleiben, wird dann wohl kaum noch jemand da sein.