: Pathetisches Sprechen ohne Scham
Noch einmal zum Fall Günter Grass: Viele Intellektuelle der Bundesrepublik entstammen nationalsozialistischen Elternhäusern oder waren gläubige Mitglieder von NS-Jugendorganisationen. Nicht diese Herkunft ist das Problem – wohl aber der moralisch-idealistische Jargon, der sich aus ihr erklärt
VON KARL HEINZ BOHRER
Als Günter Grass öffentlich machte, dass er als 17-Jähriger Soldat der Waffen-SS wurde, da lag es nahe, Entsetzen und Pathos zu inszenieren. Vor allem aber moralische Indignation darüber, dass der Erzrepräsentant der deutschen Schulderinnerung so spät, nach fast 50 Jahren antifaschistischer Rhetorik, den Enthusiasmus eben nicht des Flakhelfers, wie er bislang behauptet hatte, sondern des Waffen-SS-Soldaten für Hitler und Reich kundgab. Es zeigte sich, abgesehen von einigen trocken-sachlichen nationalen und internationalen Reaktionen, dass wir aus dem Zeitalter der Moralpolitik nur zögerlich auszutreten beginnen.
Nun war das Unerquickliche an Grass’ Bekenntnis ohnehin nicht sein Inhalt, auch nicht das Skandalon seiner individuellen Person dabei, sondern das Repräsentative seines Falles, das – wenn man es einmal verstanden hatte – schon seit langem, wie soll man es nennen, auf die Nerven ging. Es ist der inzwischen bekannte Sachverhalt: Viele der nach dem Zweiten Weltkrieg als öffentliche Ankläger der deutschen Schuldvergangenheit bekannt gewordenen Intellektuellen entstammen – selbsteingestanden oder nicht – nationalsozialistischen beziehungsweise nationalreaktionären Elternhäusern oder aber waren als Jugendliche gläubige Mitglieder der politischen Jugendorganisationen des „Dritten Reiches“ gewesen.
Solche Gläubigkeit war nicht selbstverständlich, sondern hatte oft etwas mit dem Milieu des Elternhauses zu tun. Man liste die Namen auf, und man wird sie wiedererkennen, ob diese Identität nun eine selbstverbreitete oder noch immer verschwiegene ist. Aber es ist nicht diese Herkunft an sich – obwohl nicht ohne Pikanterie –, die das Problem darstellt, sondern der aktuelle Jargon, der sich aus dieser Herkunft erklärt. Und darüber ist etwas zu sagen.
Verliebt in Adolf Hitler
Die eigentümliche Äquivalenz von Nazimilieu und bekennerischem Antifaschismus durchzog vor allem die intellektuelle und universitäre Elite, viele Achtundsechziger bis hin zum Baader-Meinhof-Terrorismus. Nun ist es ja eigentlich nur erfreulich, dass sich „Hitler’s children“ so nachdrücklich von dieser Vergangenheit getrennt haben – ein Vorgang, der zum Erfolg der Bundesrepublik als Demokratie zweifellos beigetragen hat. Und dennoch: Es war schockierend zu entdecken, dass sich hinter diesen Autoritäten, sei es aus Universität, sei es aus Kirche, um nur die markanten Milieus zu nennen, fanatische Elternbiografien verbargen.
Aber es scheint irgendwie auch notwendig gewesen zu sein: Der überwältigende Anteil der deutschen Mittelschichten, nicht zuletzt der akademischen, in denen der Anteil des alten Bürgertums längst durch soziale Aufsteiger überboten wurde, war Hitler-begeistert.
Das Missverständnis der späteren Aufarbeitung – nicht zuletzt in westlichen Demokratien – lag ja darin, die Nazibewegten eher als Kriminelle zu sortieren, statt zu sehen, wie gut viele waren!
Gut in einem spezifischen Sinne: Es waren sozusagen reine Menschen, Menschen, die die Moralisten der Nation sein wollten, die zum Weltpurgatorium angetreten sich so Hals über Kopf in Hitler verliebten. Sie kamen aus deutschnationalen Heldenfamilien, die in Heidelberg und Marburg Germanistik, Geschichte und Philosophie studiert hatten, und nicht aus internationalen Händlerfamilien, die in Brüssel und Rotterdam Geld verdienten.
Wenn also nicht nur ein großer Anteil derjenigen, die gut schreiben und lesen konnten, Nazis wurden, sondern gerade die Mehrheit in den Geisteswissenschaften – darunter nicht nur soziale Streber, sondern vom „deutschen Geist“ Überzeugte –, woher sollte schon nach dem Krieg der Widerruf kommen? Insofern taten die führenden Antifaschisten, das heißt die politisch engagierten Linksliberalen und Linken, nur etwas, was offenbar notwendig war, wenn es weitergehen sollte.
Aber es gibt einen Haken daran. Und den sollte man deswegen geradebiegen, da zum Zeitpunkt von Grass’ Geständnis diese Epoche, ihre Thematik und das partiell noch immer verschwiemelte, selbstmitleidige Sprechen darüber allmählich zu Ende geht: ein Sprechen von „Schuldigen“ ohne Scham, ein Sprechen, das in seiner Pathetik und Aufdringlichkeit irgendwie an das frühere Sprechen erinnert. Wir lassen einmal die unappetitlichen diversen Hassadressen von Kindern ehemaliger Nazigrößen an ihre Eltern beiseite, obwohl die Hemmungslosigkeit, mit der sie ihr psychisches Elend ausbreiteten, durchaus mit dem zu tun hat, wovon hier zu reden ist.
Die Mea-culpa-Rhetorik
Da war zunächst einmal die peinlich gewordene Mea-culpa-Rhetorik selbst, mit der diese Leute quasi ex cathedra jedermann seit Jahrzehnten ins Haus fielen. Denn es gab und gibt ja die immerhin erwähnenswerte, wenn auch kleine Minderheit von Kindern regimefeindlicher Elternhäuser, die seit Jahrzehnten staunend mit ansah, dass Abkömmlinge desselben Milieus, das damals das große Wort führte, dies abermals taten.
Das brachte einen zu dem nicht sarkastisch gemeinten Verdacht, dass Leute mit Öffentlichkeitsdrang diesen unter jedem Regime zur Geltung bringen. Man kann zum Beispiel mit Sicherheit darauf setzen, dass viele der Wortführer der Gremienuniversitäten und der Medien die gleiche Mischung von Betulichkeit, Gehorsam und Reform, die sie so penetrant und einschüchternd verbreitet haben, auch damals verbreitet hätten. Der Idealismus der ehemaligen BDM-Führerin blieb wiedererkennbar bei solchen, die später im Grünen grasten. Es war der gleiche Phänotyp: voller Ressentiment, spießig und idealistisch. Idealistisch wie der in seiner Epoche berühmte Schauspieler Horst Caspar als geistesfanatischer Friedrich Schiller.
Im „mea culpa“ steckt aber nicht allein die Absicht der dargetanen Zerknirschung, sondern mehr noch eine Art Erpressungsversuch, dass man endlich doch die Schuld vergeben möge. Ganz besonders die Opfer selbst, die Juden, sollten das tun. Hierbei kommt eine wahrscheinlich protestantischer Tradition entspringende intellektuelle Verdrehung – nennen wir es ruhig Perversion – ins Spiel, die wir schon vor Jahren einmal im Briefwechsel mit einem jungen Bekennenden, Enkel eines bekannten Nazigenerals, Sohn eines bekannten linken Wissenschaftsministers, versuchten auf den Punkt zu bringen: Der junge Mann schickte uns einen Text, in dem er Wiedergutmachung durch Zerknirschungsprozesse darlegte.
Ich weiß nicht, ob er unsere Ablehnung, es gebe keine Möglichkeit zu derlei Wiedergutmachung per intellektueller Reflexion, verstanden hat. Es hätte sie nur gegeben – so sagten wir ihm –, wenn die antinazistische Minderheit nach dem Kriege mit der nazistischen Mehrheit drastisch abgerechnet hätte. Das wäre die einzige, den Namen verdienende Wiedergutmachung gewesen. Wahrscheinlich hat er, Enkel und Sohn, die Zurückweisung seines frommen Wunsches als abgrundtiefe Dekadenz an politischem Bewusstsein, wie es damals hieß, vermerkt.
Nun lässt sich einer Gesellschaft nicht die tragische Ödipusmaske abverlangen, die schweigt und weiß, dass es keine Wiedergutmachung gibt. Aber es war schon ein Glück, dass jener griechische Heros Hausverbot bekam, sonst hätte er vielleicht doch noch die Stadt mit der Universalisierung seiner Schuld belästigt. Und damit kommen wir zum eigentlichen Punkt unserer Klarstellung.
Die frenetische Rhetorik, mit der das Schuldbekenntnis an die Öffentlichkeit trat, erinnert in ihrer Taktlosigkeit und Unzivilisiertheit, in ihrer undifferenzierten Emotionalität an die fundamentalistischen Glaubensbekenntnisse all der tausenden und abertausenden kleiner und großer Nazis. Auch die Naivität, eine Zivilgesellschaft auf radikalen moralischen Überzeugungen begründen zu wollen! Nicht von ungefähr erinnert sich der Antikapitalismus in solchen Kreisen an das Naziwort von der „Zinsknechtschaft“. Sie wollen noch immer in einer Volksgemeinschaft leben. Die Politikerfloskel von „den Menschen da draußen“ kam ja so gut an, weil die Angesprochenen noch immer volksgemeinschaftlich fühlten, nicht individualistisch, nicht klassenmäßig.
Fataler Beigeschmack
Auch eine Reihe pazifistischer Rituale haben für den Unfrommen sofort einen fatalen Beigeschmack von dem, was man einmal „deutschgläubig“ nannte. Dass es einen Preis des Deutschen Buchhandels gibt, der „Friedenspreis“ heißt, scheint hierzulande noch keinem als fragwürdig aufgestoßen zu sein. Die deutsche Nachkriegsliteratur – und Günter Grass ist ihr Berühmtester – zog ihre künstlerischen Defizite aus einem aufdringlichen Moralismus. Das ist etwas grundsätzlich anderes, als was die amerikanische Historikerin Gertrud Himmelfarb kürzlich unter dem Begriff moral imagination am Beispiel von angelsächsischen Denkern wie Edmund Burke, John Stuart Mill und Lionel Trilling beschrieben hat. Oder Richard Rorty.
Was den verkappten, weitgehend unbewussten Zusammenhang mit dem totalitären Idealismus der Damaligen aber folgerichtig herstellt, war die ideologisch gesinnungstüchtige Brandmarkung derjenigen, die den Weißwäschern ironisch oder gar polemisch begegneten. Deren Weißwäscherei bestand darin, dass sie den anderen vorhielt, wieder weiße Wäsche tragen zu wollen. Diese könnten nur sie selbst tragen, eben weil sie wüssten, dass sie eigentlich keine mehr hätten.
Anders ausgedrückt: Die Pointe des Schuldbekenntnisses war, durch ihr Bekenntnis eine neue Unschuld beanspruchen zu dürfen. Der Universalisierungseffekt: Die Schuldigen sind die neuen Unschuldigen, die im Unterschied zu allen anderen „aus der Geschichte gelernt haben“, ja die anderen Nationalgeschichten gegenüber den Vorteil eines historisch neuen Paradigmas beanspruchen.
Damit ist das sich wiederholende politische Defizit dieser neuen Deutschgläubigen genannt. Ihre „Schuld“ eröffnete ihnen nämlich den Blick in eine Zeit der Schuldlosigkeit, das heißt eine Zeit, in der Politik nur als Schuldpolitik denkbar wurde. Die Konsequenz: Alles, was als schuldverursachend ansehbar war, wurde aus dem politischen Katechismus gestrichen. Angefangen mit der Ächtung des Nationalstaats und der Ächtung der Nationalität, der Ächtung des Patriotismus über die Ächtung weltpolitischen Engagements bis hin zur selbstverständlichen Ächtung der Möglichkeit des Krieges als Mittel der Politik.
Der Fanatismus, mit dem das geschah und zum Teil noch immer geschieht, erinnert an das weltlose Zelotentum der Nazis, ist auch psychologisch ihr Äquivalent. Ja, die Begründung der deutschen Geschichte auf dem Holocaust liest sich wie die perverse Inversion der Tat selbst, ist nur als Frenetismus einer Schuldkultur zu verstehen. Als ob kriminell-pathologischer Wahn durch neuen Wahn exorziert werden könnte!
Dass diese Moralisierung der Politik praktisch auf das Prinzip politischer Verantwortungslosigkeit hinauslief, sich als Tugend vor der Feigheit drapierte und theoretisch die fatale nationalsozialistische Hysterie variierte, ein und für alle Mal die Welt vom Übel zu befreien, ist diesen Kindern Hitlers bis heute nicht aufgegangen, obwohl es ihnen von wenigen erstaunten deutschen und vielen westeuropäischen Beobachtern ab und zu diskret gesagt worden ist.
Es bleibt eine Frage unbeantwortet: Warum eigentlich wurde der Ton der Schulderinnerung von diesen Kindern der Ehemaligen und nicht von den Kindern der Regimeabgeneigten so ausschließlich angegeben? Warum haben diese sich nicht energischer in Szene gesetzt? Denn selbst wenn nur sie übrig geblieben wären, nur sie mehrheitlich das allerletzte Inferno des „Dritten Reiches“ überlebt hätten oder wenn sie den Ehemaligen wirklich den Prozess gemacht hätten, dann wäre es an ihnen gewesen, die Verbrechen ihrer Nation öffentlich zu verantworten.
Man denkt an Ralf Dahrendorf und Joachim Fest, vor allem aber an Sebastian Haffner. Die post mortem bekannt gewordene Erinnerungsschrift an die Zwischenkriegszeit, die Zeit des langsamen Aufkommens der Nazis, ist eine einzigartige Darstellung der präfaschistischen Mentalitäten in der deutschen Mittelklasse, gesehen aus dem Blickwinkel eines Nichtdazugehörenden. Aber von demselben Haffner sind nach dem Kriege keine einschlägigen „antifaschistischen“ Äußerungen an die Adresse seiner Mitbürger bekannt geworden. Es fällt einem auch W. G. Sebald ein. Wie Haffner verließ er Deutschland, allerdings nach der Naziherrschaft, und er machte sie zu seinem literarischen Thema, aber eben ohne jede mit der literarischen Linken vergleichbare aktuelle Polemik. In beiden Fällen war wohl auch eine existentielle Trauer im Spiel, von der die Rhetorik der politischen Moralisten charakteristischerweise nichts hatte.
Regimegegner schweigen
Haffner, Sebald und einigen wenigen anderen ist eine gewisse Art, leise und wie für sich selbst zu sprechen, eigen. Sie waren immer Außenseiter, partiell im Ausland lebend. Es gab auch Angehörige von unmittelbar in den 20. Juli Verwickelten, aus deren Kreis niemals mehr ein Wort zu vernehmen war. Kein Wunder, da die Familien der hingerichteten Verschwörer auch lange Zeit nach dem Kriege sozial anonym blieben und die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung keinerlei Beziehung zum 20. Juli unterhielt. So ergibt sich immer stärker der Eindruck, dass regimeabgeneigte Kreise sich von der intellektuellen Diskussion nach dem Kriege entfernt hielten.
Vor allem aber: Intellektuelle wie die Genannten waren ohne jenen Selbsthass, in dem die Tonangebenden so lange bewusst oder unbewusst gebadet haben, was ihnen zweifellos eine emotionale, eine kreative Durchschlagskraft gab. Sie waren die Guten, die für die Vielen sprachen. Nicht das altbürgerliche Erbteil, sei es liberal, sei es religiös.
Und damit ist unsere Frage fast beantwortet: Die Nazis hatten der altbürgerlichen ebenso wie der aristokratischen Kultur in Deutschland den Rest gegeben. Jedenfalls waren die Bürger nicht mehr in der Lage, sich während der zwölf Jahre bemerkbar zu machen. Nach den zwölf Jahren war es – trotz des Beginns mit Adenauer – offenbar endgültig zu spät für sie.
Der Autor ist Mitherausgeber der Zeitschrift Merkur. – Abdruck aus Merkur, Heft 691, November 2006. www.online-merkur.de