: Angriff auf Odessas Polizei
GEWALT Nach dem Tod von mehr als 40 Demonstranten stürmen prorussische Demonstranten das Polizeihauptquartier der Millionenstadt am Schwarzen Meer
VERA KOBRITSCHENKO AUS SLAWJANSK
AUS DONEZK BERNHARD CLASEN
Die kriegsähnlichen Auseinandersetzungen im Osten der Ukraine drohen auf den Südwesten überzugreifen. Nach dem Tod von 46 Menschen am Freitag stürmten am Sonntag mehr als 2.000 prorussische Demonstranten unter Rufen „Faschisten, Faschisten!“ die Polizeizentrale von Odessa. Die Angreifer waren mit Knüppeln bewaffnet und durchbrachen ein Tor mit zwei Lastwagen. Sie erreichten die Freilassung von festgenommenen Gesinnungsgenossen.
Die meisten der Opfer vom Freitag waren bei einem Feuer im Gewerkschaftshaus ums Leben gekommen. Begonnen hatten die Auseinandersetzungen in Odessa mit einem Angriff von prorussischen Anhängern auf eine proukrainische Demonstration. Dabei waren vier Menschen ums Leben gekommen. Bei dem anschließenden Gegenangriff gingen Zelte der prorussischen Seite in Flammen auf. Deren Anhänger verschanzten sich darauf im Gewerkschaftshaus, wo es wenig später zu dem tödlichen Brand kam.
Der ukrainische Regierungschef Arseni Jazenjuk machte die Polizei für die Straßenschlachten in Odessa mit verantwortlich. Die komplette Führung der örtlichen Miliz werde entlassen, sagte er. Zugleich beschuldigte der ukrainische Geheimdienst SBU Kreise um den Expräsidenten Wiktor Janukowitsch, die Gewalt geplant zu haben.
Aus Protest gegen die Ereignisse in Odessa stürmten Anhänger der „Volksrepublik Donezk“ unter den Rufen: „Odessa – wir vergessen nicht! Odessa ist eine russische Stadt!“ am Samstag das Donezker Geheimdienstgebäude. Da das Haus leer war, gab es keine Opfer.
Ein Ende der Kämpfe im Osten der Ukraine ist nicht abzusehen. Am Sonntag konzentrierten sich die bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen prorussischen Milizionären und der ukrainischen Armee auf die Städte Lugansk, Kramatorsk und Kostjantynika.
In Lugansk kämpften Aufständische und Sicherheitskräfte am Samstag erbittert um die Wehrkreisbehörde. Quellen aus der Regierung berichteten, dass man die Erstürmung habe verhindern können. In Kramtorsk soll es Regierungstruppen gelungen sein, den Fernsehturm zurückzuerobern. In Mariupol im Süden der Ostukraine geriet das Gebäude des Stadtrates bei dessen Sturm in Brand.
Dagegen kehrte in Slawjansk am Wochenende Ruhe ein. Dort waren Ende letzter Woche zehn Menschen getötet und dreißig verletzt worden, wie beide Seiten übereinstimmend berichteten. Es könnte die Ruhe vor dem Sturm sein.
Am Sonntag wurden die bisher identifizierten Opfer in der Stadt beerdigt. Anschließend demonstrierten mehrere Hundert Menschen im Zentrum gegen die von Kiew angeordneten Sonderoperationen in der Region, berichtete Vera Kobritschenko, Stadträtin von Slawjansk, gegenüber der taz. „Heute ist es ruhig bei uns. Die Stadt wird von der Bevölkerung kontrolliert. Wir konnten ein Eindringen ukrainischer Truppen in unsere Stadt verhindern“, sage Kobritschenko. Derzeit sei die Stadt eingekesselt. Die Geschäfte seien nur zeitweise geöffnet. Versorgungsfahrzeuge würden jedoch weiterhin die Stadt mit Lebensmitteln beliefern.
Russland forderte von der OSZE und dem Europarat eine scharfe Reaktion. Die Regierung in Kiew führe eine „Strafaktion gegen das eigene Volk“ durch, aber der Westen schweige, kritisierte das Außenministerium.