Der Raubzug des Kunstmarkts

von BRIGITTE WERNEBURG

Mit der Versteigerung bei Christie’s in New York wird die Debatte um die „Berliner Straßenszene“ (1913) von Ernst Ludwig Kirchner nicht beendet sein. Denn dann wird es interessant sein zu erfahren, wer bereit war, dieses Spitzenwerk des deutschen Expressionismus, das von 1980 bis zum 30. Juli 2006 unbeanstandet im Berliner Brücke-Museum hing, um jeden Preis in sein Eigentum zu überführen. Vielleicht wird man sich in der Zukunft wieder an die Debatte erinnern, wenn die „Berliner Straßenszene“ erneut zur Auktion steht. Der Markt ist im Jahr 2006 heißer und spekulativer denn je. Gestern bei Sotheby’s wie heute bei Christie’s steht wenige Jahre nach ihrem letzten Besitzwechsel eine Reihe von Gemälden wieder zur Auktion: mit der Erwartung von Wertsteigerungen um etwa das Doppelte. Für einen Cézanne, der im Jahr 2000 bei Christie’s 12 Millionen Pfund kostete, will Sotheby’s nun 28 bis 35 Millionen Dollar erzielen. Ein Modigliani, der 1997 bei Christie’s 5 Millionen Dollar kostete, soll heute bis zu 18 Millionen Dollar einbringen.

Rund zehn Prozent der aufgerufenen Werke der Herbstauktion von Christie’s sind Kunstwerke, die an die Erben von in der Nazizeit verfolgten Sammlern zurückgegeben wurden: Ein Interieur von Vuillard, ein Stillleben von Picasso, vier Gemälde von Gustav Klimt, deren Schätzwert sich auf insgesamt 100 Millionen Dollar beläuft – und eben die „Berliner Straßenszene“ von Kirchner. Christie’s weiß von großem Interesse aus Russland. 30 Millionen Dollar scheinen nicht unmöglich. Das bisher höchste Auktionsergebnis für den deutschen Expressionisten wurde im Februar dieses Jahres in London mit 7,2 Millionen Euro für sein „Frauenbildnis im weißen Kleid“ von 1908 erzielt.

Kirchners „Berliner Straßenszene“ war eine wichtige Attraktion für das kleine Brücke-Museum in Berlin. Lutz von Pufendorf, der Vorsitzende des Förderkreises Brücke-Museum e. V., will ein Strafverfahren gegen den Berliner Kultursenator Thomas Flierl (Linkspartei.PDS) und seine Staatssekretärin Barbara Kissler einleiten. Er wirft ihnen vor, das Gemälde an Anita Halpin, die Enkelin des Sammlers Hans Hess, zurückgegeben zu haben, ohne dass dafür eine rechtliche oder auch nur moralische Pflicht bestanden habe. Der Kultursenator habe daher rechtmäßiges Eigentum des Landes veruntreut.

Nicht jeder Anspruch hält stand

Der Fall zwingt zu einer erneuten Diskussion um die Schuld des Naziregimes in Deutschland. Nicht jeder heute vorgetragene Anspruch der Erben auf verlorene Kunstschätze der Naziopfer hält den historischen Tatsachen stand. Unstrittig ist, dass Thekla Hess, die Witwe des Leipziger Schuhfabrikanten und Kunstsammlers Hans Hess, das Bild 1936 für die Summe von 3.000 Reichsmark an den I.G.-Farben-Vorstand und Sammler Carl Hagemann, einen Nazigegner, verkauft hat. Umstritten ist aber, ob dieser Verkauf eine Folge der Verfolgung des Juden Hess durch die Nazis war. Anita Halpin macht einen „mittelbaren Zwang“ durch die Zeitumstände geltend, und der Kultursenator beruft sich auf eine eidesstattliche Erklärung aus dem Jahr 1958, in der die Witwe Thekla Hess von der erzwungenen Herausgabe von Gemälden aus der Sammlung ihres Ehemanns spricht.

Lutz von Pufendorf dagegen kann sich auf das Urteil von Fachleuten stützen. Nach dem Tod Carl Hagemanns 1940 schenkte dessen Familie das Gemälde privat dem Direktor des Frankfurter Städel-Museums. Seine Witwe verkaufte es dem Brücke-Museum 1980 für 1,8 Millionen Mark. Uwe Fleckner, der Leiter des Kunsthistorischen Instituts der Uni Hamburg und der Forschungsstelle „Entartete Kunst“ an der FU Berlin, und Wolfgang Henze vom Ernst-Ludwig-Kirchner-Archiv in Bern kommen beide zu dem Schluss, dass auch schon Thekla Hess Kirchners Bild ohne Zwang aus wirtschaftlichen Gründen zu einem damals angemessenen Preis verkauft und danach über den Erlös frei verfügt habe. Das Brücke-Museum wäre damit völlig legal im Besitz des Meisterwerkes. Indizien dafür sind ein Brief von Kirchner vom Februar 1937, in dem er sich erfreut zeigt, dass Hagemann „das Straßenbild aus Cöln“ kaufte. Zudem ist ein Brief vom März 1937 erhalten, in dem der Sammler Arnold Bodczies Hagemann ebenfalls zu seinem Kirchner gratuliert, wobei er meint: „Freilich ist der Preis sehr hoch.“ Eine Quittung über den Verkauf gibt es nicht.

Thomas Flierl und seine Staatssekretärin rechtfertigen mit diesem fehlenden Beleg ihre Entscheidung für die umstandslose Restitution. Sie berufen sich dabei auf die Washingtoner Erklärung vom 3. Dezember 1998 über die „Grundsätze in Bezug auf Kunstwerke, die von den Nazis beschlagnahmt wurden“, und auf eine so genannte Handreichung des Bundes, der Länder und Gemeinden von 2001. Zwar stellt die Washingtoner Erklärung gleich im ersten Satz fest, eine formelle Rechtspflicht zur Rückgabe bestehe nicht, anerkennt aber ein moralisch berechtigtes Interesse der Erben von Verfolgten der NS-Herrschaft, ihr unrechtmäßig verlorenes Vermögen wie etwa die Kunstsammlung der Familie wieder zu erlangen.

Fairer und gerechter Ausgleich

Dass es den Erben dabei meist um die finanzielle Entschädigung geht, den Museen aber um die Kunstwerke, ist der Grund, warum die Erklärung einen „fairen und gerechten Ausgleich“ fordert. Die deutsche „Handreichung“ formuliert dafür überaus hohe Hürden zugunsten der Erben: Ein verfolgungsbedingter Entzug von Besitz liege auch dann vor, wenn die Veräußerung nur mittelbar eine Folge der NS-Herrschaft war und auch, wenn der Verkauf aus dem Ausland erfolgte. Ein nicht politisch, sondern allein wirtschaftlich begründeter Verlust soll nur anerkannt werden, wenn ein angemessener Preis bezahlt wurde und nachweisbar das Rechtsgeschäft auch ohne die Nazi-Herrschaft abgeschlossen worden wäre. Vor allem der letzte Beleg ist schon aus logischen Gründen kaum zu erbringen, weshalb deutsche Museen grundsätzlich einen besonders schweren Stand in Restitutionsverhandlungen haben.

Einem fairen Ausgleich im Sinne der Washingtoner Erklärung stünde bei gutem Willen auf beiden Seiten dennoch nichts entgegen. Die zuletzt beobachtbare Häufung spektakulärer Rückgaben, die dann innerhalb weniger Tage auf dem Kunstmarkt auftauchen, also in den Versteigerungslisten der internationalen Auktionshäuser, nährt freilich Zweifel an ebendiesem guten Willen. Mehr und mehr erschließt der vermeintliche Ausgleich berechtigter Interessen dem internationalen Kunstmarkt Werke von singulärer Qualität, die hohe Gewinne versprechen. Daher disqualifiziert sich nicht automatisch moralisch, wer im Fall der „Berliner Straßenszene“ fragt, ob aufseiten des Senats genügend Sorgfalt und Umsicht bei den Verhandlungen waltete. Der gute Wille, ein wichtiges Kunstwerk der Öffentlichkeit zu erhalten, ist nicht zu bemerken. Der moralische Mehrwert einer klaglosen Restitution scheint dem Kultursenator wichtiger gewesen zu sein.

Besonders unangenehm stößt dabei auf, dass es genügend Gelegenheiten gab, moralische Standfestigkeit in Kunstfragen zu zeigen. Aber die Zeit des Nationalsozialismus und ihre aktuellen Folgen sind in Berlin noch immer ein ganz und gar abgespaltener, der politischen Vernunft unzugänglicher Bereich des gesellschaftlichen Bewusstseins. Unter Schröders Regierung meinte die Kulturstaatssekretärin Christina Weiss, die Sammlung zeitgenössischer Kunst des Erben eines NS-Kriegsverbrechers wie Flick könne „die Wunden, die die Nazizeit geschlagen hat, heilen“. Und vor kurzem hielt es die mit großem Werbeaufwand inszenierte Ausstellung „Berlin – Tokyo“ für überflüssig, die Jahre 1933 bis 1945 mit Kunst aus ebendieser Zeit zu dokumentieren. Stattdessen hingen 1945 entstandene Gemälde verfolgter Künstler an der Wand.

Mag sein, dass solchen Verdrängungsleistungen das Bedürfnis nach einer besonders sauberen Weste in der Stadtregierung entspricht. Das verdruckste schlechte Gewissen strammer Linker wie Flierl und Kissler erklärt zumindest recht gut, warum über die zweijährigen Restitutionsverhandlungen absolut nichts an die Öffentlichkeit drang. Selbst der Freundeskreis des Brücke-Museums erfuhr erst durch die Presse, dass ein Hauptwerk der Sammlung wohl für immer verloren sei. Den Rat externer Experten einzuholen schien Thomas Flierl und Barbara Kissler unnötig. Wolfgang Henze vom Kirchner-Archiv in Bern ist niemals auch nur angefragt worden. Dafür meldete sich am 24. Juli 2006 das Auktionshaus Christie’s bei ihm mit Nachfragen zur Sammlung Hess.

Die Erklärung für diese überraschend erwachte Neugier liegt sehr wohl in Berlin. Flierl und Kissler hatten ein Papier von Andreas Hüneke, Kunsthistoriker in Potsdam und Mitarbeiter der Forschungsstelle „Entartete Kunst“ an der FU Berlin, an die Anwälte der Erbin weitergeleitet. Inzwischen auf www.artnet.de frei zugänglich, fasst es Hünekes Recherchen über die Sammlung Hess zusammen. Der Autor hatte seine Erkenntnisse auch Museen in Erfurt, Duisburg und Essen zur Verfügung gestellt, die ebenfalls von Restitutionsansprüchen durch Anita Halpin betroffen sind. Er beklagt jetzt, dass ausgerechnet diese Anwälte „mit meiner kostenlos der Allgemeinheit zugedachten Arbeit ihr Geld“ verdienen: Ende Juli verlangten sie im Auftrag von Anita Halpin die Rückgabe eines Bilds von August Macke, das im Aargauer Kunsthaus hängt. Das sah allerdings weder rechtliche noch moralische Gründe zur Rückgabe und meldete den Fall an das schweizerische Bundesamt für Kultur, bei dem es seit 1999 eine Stelle für Raubkunst gibt.

Politik stellt sich tot

Deutschlands moralische Verpflichtung gegenüber den Erben der Naziverfolgten ist freilich schwerwiegender. Tatsächlich steht die Washingtoner Erklärung im Zusammenhang mit der Zwangsarbeiterentschädigung, die noch einmal ins Bewusstsein rief, dass längst nicht alle Folgelasten der NS-Zeit geklärt sind. Eine überfällige Erinnerung, die den direkt Betroffenen spät, aber doch konkret zugute kam. Im Fall der Erben ist die Lage komplizierter. Vor den Erben, die sie bei der Einleitung eines Restitutionsverfahrens unterstützen, profitieren hier regelmäßig Kunsthandel und Rechtsanwaltskonsortien. Denn nach Abzug des Erfolgshonorars und der Versteigerungskosten bleibt den Erben oft weniger, als ihnen die Museen boten. Warum machen sich Letztere diesen Umstand nicht zunutze? Warum kommen sie dem Markt bei womöglich restitutionsbefangenen Werken nicht zuvor und bieten als Erste ihre Hilfe an?

Dafür müsste, ähnlich wie im Fall der Zwangsarbeiterentschädigung, die Politik Verantwortung übernehmen und ein Budget organisieren. Da stellt sie sich lieber tot. Und falls die Museen nicht ungeschoren davonkommen, verlieren sie eben ihre Kunstwerke. Das politische Personal hält es ja auch für möglich, kostbare Handschriften für einen außergerichtlichen Vergleich zu verscherbeln. Warum also sollte es irritiert sein, wenn die „Berliner Straßenszene“ im Anwesen eines Putin genehmen Oligarchen verschwindet?