WO MAN SICH TRIFFT
: Am Wochenende in der Videothek

VON DIRK KNIPPHALS

Die große Videothek in der Martin-Luther-Straße, Ecke Grunewaldstraße wurde gerade umgebaut. Die Martin-Luther-Straße ist unschön – eher etwas für den Verkehr als für streunende Großstadtbewohner und überhaupt ziemlich verschandelt durch die Pläne für eine autogerechte Stadt in der Nachkriegszeit, die die Menschen dazu bringen wollten, in Randbezirken zu wohnen und in den Innenstädten zu arbeiten; amerikanisch halt. Aber die Videothek ist gut. Und sie ist, denke ich mir manchmal, fast so etwas wie das heimliche Zentrum des mir gelegentlich durchaus ein heimeliges Unsere-kleine-Stadt-Gefühl vermittelnden Viertels rund um den Winterfeldtplatz in Schöneberg, wo ich wohne.

An Freitagabenden trifft sich dort jedenfalls eine ziemlich bunte Mischung von Kunden. Da sind die Jungmännergruppen, die immer noch ein bisschen aufgeregt sind, weil es ihnen nun auch offiziell erlaubt ist, sich die wirklich harten Sachen auszuleihen. Dann sind da die gemischtgeschlechtlichen Jugendlichengruppen, die, da noch zu jung für den Club, zwei, drei DVDs für die Wohnzimmerparty mit Chips und Cola brauchen.

Freitagabende sind, glaube ich, eher die Zeit für die Komödien und für die Actionfilme als für die Kuschel- und Kunstfilme. Und zur Stoßzeit zwischen 19 und 22 Uhr trifft sich in der Videothek ein bestimmt ziemlich repräsentativer Ausschnitt der Multitude, die die Gegend bewohnt: von der integrierten Migrantin bis zum Fourtysomething, vom urbanen Intellektuellen (der nebenbei schwul ist, ohne da aber noch ein großes Ding draus zu machen) bis zum netten Proll. Es ist der Beginn des Wochenendes und Zeit, sich abzulenken. Eine DVD, das eint alle diese Gruppen, bietet eine gute Möglichkeiten, einen geordneten Übergang von der Arbeit zur Freizeit hinzukriegen.

Auf die Vielfalt ihrer Kunden hat meine Videothek mit einem ausdifferenzierten Angebotsprogramm reagiert. Neben den aktuellen Blockbustern findet sich eine überraschend große Auswahl an Woody-Allen- und Clint-Eastwood-Filmen sowie an Klassikern wie „Sein oder nicht sein“ oder „The Big Lebowski“. Außerdem gibt es eigene Spartenabteilungen mit schwul-lesbischen, türkischen und Bollywoodfilmen – für jeden etwas dabei. Systematische Werkreihen zum Beispiel zu Wim Wenders, Éric Rohmer und Ridley Scott gibt es auch. Manchmal denke ich, dass die Videothek inzwischen längst die Stadtteilbibliothek abgelöst hat. So ganz ohne Bildungsanspruch kommt sie jedenfalls nicht aus.

Samstagabende sind meiner Beobachtung nach dann ganz anders. Das ist die Ausleihzeit der Paare, der Rumpffamilien und der Einsamen. Bei den Paaren gibt es zwei Gruppen: die, die Verliebtheit versprühen; und die, die ja auch am Samstag irgendetwas miteinander anfangen müssen. Für Alleinerziehende sind DVDs am Samstag ein unverzichtbares Hilfsmittel der Lebensgestaltung geworden. Man kann ja nicht immer Monopoly spielen, und eine DVD, auf die man sich als Wochenendvater mit seinen Kindern einigen kann, findet sich immer.

Und die Einsamen sind eigentlich am interessantesten, aber man hat auch die größte Scheu, sie zu beobachten. Ich glaube, dass viele Singles am Samstag nur ganz verschämt oder aber betont locker DVDs ausleihen, weil sie nicht wollen, dass jemand bemerkt, dass sie den Film danach allein auf dem Sofa angucken. Aber meistens bemerkt man es halt doch.

Ach ja. Kürzlich habe ich gelesen, dass die Videotheken zu kämpfen haben, weil die Leute sich ihre Filme inzwischen über ihre Breitbandverbindungen aus dem Internet saugen. Wahrscheinlich wird es in zehn Jahren nur noch ein paar Liebhaber- und Insider-Videotheken geben, so wie es heute schon nur noch Liebhaber- und Insider-Plattenläden gibt. Der Lauf der Individualisierung halt. Mal sehen, wie es dann so wird. Umso wichtiger, habe ich mir nach dem Lesen gedacht, sich die Gegenwart des sozialen Ortes Videothek noch einmal genau anzugucken.