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Archiv-Artikel

„Die Anfälligkeit wird größer“

Der Stromabschalt-GAU vom Samstag ist von einer Leitung über der Ems ausgelöst worden. Der Stromexperte Professor Jan-Luiken ter Haseborg erklärt, wie es dazu kommen konnte

INTERVIEW: HANNA GERSMANN

taz: Herr ter Haseborg, eine Panne in Norddeutschland verdunkelt Europa. Müssen wir uns auf Black-outs einstellen?

Jan-Luiken ter Haseborg: Wir brauchen immer mehr Energie. Die Leitungen werden stärker belastet denn je. So wird die Anfälligkeit größer.

Was hat das Emsland mit Strom in Europa zu tun?

Holländer bekommen Strom aus Hamburg, Hamburger Strom aus Österreich. Wir sind europaweit vernetzt. Die Energie, die aus der Steckdose kommt, wird in Kraftwerken tausende Kilometer entfernt produziert.

Der Auslöser für die toten Steckdosen klingt harmlos: Wegen eines Luxuskreuzers wurde eine Starkstromleitung über der Ems abgeschaltet. Wieso diese Folgen?

Man muss sich die Stromleitungen wie ein Spinnennetz vorstellen. Die dickeren Fäden, die Höchstspannungsleitungen, transportieren die elektrische Energie von den Großkraftwerken zu Umspannanlagen. Von diesen Knoten gehen die dünneren Fäden ab, das sind die regionalen Netze. Sie transportieren den Strom bis zum Verbraucher. Allein in Deutschland ist das Netz 1,7 Millionen Kilometer lang. Das Verbundsystem ist hoch kompliziert – und sensibel.

Was ist genau passiert?

Wenn eine Leitung abgeschaltet wird, müssen die anderen Leitungen umso mehr Strom übernehmen. Ein Netz, das zu stark belastet wird, schaltet sich jedoch automatisch ab. Lastabwurf nennen das Experten. Er soll die Versorgung eigentlich sicher machen. Doch werden durch ihn weitere Leitungen überlastet. Sie schalten sich ebenfalls ab. Diese Kettenreaktion lässt sich nicht einfach stoppen.

Warum spürten Hamburg, Bremen oder Hannover nichts von dem Effekt?

Das wissen wir noch nicht. Sie saßen offenbar auf der sicheren Seite.

Wie einfach ist es für die Meyer-Werft, die Hochspannungsleitung außer Betrieb zu nehmen?

Im Prinzip wird ein Schalter umgelegt. Das ist aber natürlich stark automatisiert, an einer Kontrollkonsole blinken viele Monitore, Lämpchen und Schalter. Mehrere Experten überwachen die Energieverteilung. Da entscheidet keine Person allein.

Wer genehmigt den Schritt?

Das funktioniert so: Die Meyer-Werft teilt E.ON mit, wann sie das Kreuzfahrtschiff durch die Ems in die Nordsee überführen will. Der Stromkonzern simuliert dann per Computer, wie viel Strom über andere Leitungen wohin transportiert werden muss. Er prüft, ob das klappt – und gibt sein Okay.

Es war ein Computerfehler?

Natürlich kann der Mensch auch in die Technik eingreifen. Noch ist die Ursache für das Versagen unklar. Nur soviel steht fest: Der Stromversorger hat die Mannschaft auf der Brücke kurz nachdem das Schiff losgefahren war angefunkt – und zum Stoppen aufgerufen. E.ON versuchte alles rückgängig zu machen und den Kollaps zu verhindern.

Warum schaltet die Meyer-Werft die 380.000 Volt-Leitung überhaupt ab?

380.000 Volt – das ist sehr hohe Spannung. Es ist also gefährlich unter der Leitung hindurchzufahren. Damit was passiert, muss noch nicht einmal der Schornstein die Leitung berühren. Ist der Abstand nicht groß genug, gibt es einen elektrischen Überschlag.

Die Folge?

Navigationsgeräte und sonstige Geräte an Bord gehen kaputt. Diese Luxus-Liner sind High-Tech-Produkte und die Elektronik ist empfindlich. Auf diesen Schiffen werden allein mehr als 2.000 Kilometer Kabel verlegt.

Warum wird das Netz nicht mitten in der Nacht unterbrochen, wenn kaum Strom verbraucht wird?

Das Schiffsmanöver kann nicht zu jeder beliebigen Zeit stattfinden. Die Werft muss sich zu allererst nach der Tide und dem Wetter richten. Klar, sonst würde sie das Schiff wohl zu Zeiten überführen, in der fast keine Energie verbraucht wird. Dann wäre das Abschalten nicht so problematisch.

Und wie oft nimmt E.ON die Leitung vom Netz?

Die Papenburger Meyer-Werft baut seit 1985 Kreuzfahrtschiffe. In den letzten Jahren ist darunter im Schnitt alle sechs Monate ein großes Schiff. Bei diesen Superperlen wird der Abstand zur Hochspannungsleitung gefährlich gering.

Wie hoch hängt die Leitung?

Knapp 50 Meter über der Ems. Der Abstand zur Mastspitze der Norwegian Pearl beträgt nicht mehr als zwei Meter. Die Norwegian Pearl ist mit 93.000 Bruttoregistertonnen einer der größten Luxusliner – und muss in diesen Tagen raus. Damit der Liefertermin eingehalten wird. Sonst wird es teuer. Es wird also wieder abgeschaltet.

Kann man den Domino-Effekt verhindern?

Dafür müsste Geld investiert und das Netz ausgebaut werden. Aber auch mit mehr Leitungen ist die Versorgung nicht absolut sicher.

Was kann im schlimmsten Fall passieren?

In Krankenhäusern springen im Ernstfall Diesel-betriebene Notstromaggregate an. In Schweineställen kann aber schon mal die Fütterung ausfallen, in Supermärkten die Kühlung, in Banken der Geldautomat.

Können Bürger und Ladenbesitzer den Versorger in Regress nehmen?

Das hängt vom Vertrag ab. Ein Recht darauf, dass der Strom ohne Unterbrechung geliefert wird, gibt es selten.

Was raten Sie zu tun?

Die Stromkunden sollten sich bei Verbraucherzentralen erkundigen. Sie können aber ohnehin Ruhe bewahren. Statistisch gesehen fällt der Strom in deutschen Haushalten bislang nur 23 Minuten im Jahr aus.