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Archiv-Artikel

Zwangsverkauf, Flucht und Exil

VON HOLGER PAULER

Das Geschäft „Adolf Reichenberg“ in der Bochumer Bongardstraße wirbt im Jahr 1932 mit neuer Aufmachung und bewährtem Service: „Seit über vier Jahrzehnten pflegen wir den Qualitätsgedanken“. Adolf Reichenberg hat das Geschäft für Porzellan- und Haushaltswaren in unmittelbarer Nachbarschaft des Rathauses im Jahr 1920 für 475.000 Reichsmark übernommen, seit seinem Tod 1925 führt seine Frau Paula den Laden.

Der Laden in der Bongardstraße läuft, auch in den ersten Jahren der NS-Diktatur. Und das, obwohl die Reichenbergs eine jüdische Familie sind. 15 Mitarbeiter zählt das Unternehmen: Juden und Nichtjuden. Das Bürgertum der Stadt kauft hier ein. Über viele Jahre. Zu einer ersten Zäsur kommt es 1935. Am 21. Dezember werden die Juden durch die „Zweite Verordnung zum Reichsbürgergesetz“ weitgehend von der freien Berufsausübung ausgeschlossen. „Das Kaufhaus Kortum entließ damals 35 jüdische Mitarbeiter“, erzählt der Bochumer Historiker Hubert Schneider. Auch Paula Reichenberg muss sich der Gesetzgebung beugen und Angestellte entlassen.

Das Geschäft hingegen bleibt vorerst unbehelligt. Bis zum Jahr 1938. Die Stadt Bochum hat Pläne. Das Zentrum der Gau-Hauptstadt Westfalen Süd soll im NS-Stil saniert werden, die Geschäfte in der Bochumer Innenstadt müssen dafür weichen. Für nur 144.000 Reichsmark geht das Grundstück der Familie Reichenberg in den Besitz der Stadt über. „Die Stadt legte den Einheitswert vor Steuern zu Grunde“, erklärt NS-Forscher Schneider. Drei Jahre zuvor hat dieser Wert noch bei 207.700 Reichsmark gelegen.

Von den Verkaufserlösen bleibt Paula Reichenberg nicht viel: Knapp 34.000 Reichsmark gehen als Hypothek an die Sparkasse, 61.000 an das Bochumer Finanzamt. Anlässlich ihrer Emigration in die Schweiz im Jahre 1939 werden ihr dann noch 56.000 Reichsmark „Reichsfluchtsteuer“ berechnet, ein Überbleibsel aus der Zeit der Regierung von Reichskanzler Heinrich Brüning aus dem Jahr 1931, wonach Auswanderer 25 Prozent ihres Vermögens an die Reichskasse abzuführen hatten. Dazu wird die „Judenabgabe“ fällig, eine „Sühneleistung“, wonach der gesamten jüdischen Bevölkerung Deutschlands eine Milliarde Reichsmark für die in der Reichspogromnacht entstandenen Schäden in Rechnung gestellt wurden. Paula Reichenberg muss 24.250 Reichsmark zahlen.

Ein von der Stadt eingesetzter Treuhänder schreibt am 12. Dezember 1939 an Paula Reichenberg: „Glauben Sie mir, dass mir noch selten ein Bericht so schwer gefallen ist wie dieser. Nicht nur, weil ich leider nur Ungünstiges berichten kann, sondern weil mir das, was in dieser Sache gegen Sie geschieht und geschehen ist, als außerordentliches Unrecht klar ist, und das geht mir persönlich nahe“, heißt es in einem Dokument im Stadtarchiv Bochum.

Im gesamten Reichsgebiet hat der Druck auf jüdische Geschäftsleute bereits seit 1937 zugenommen. Die „Verordnung zur Ausschaltung der Juden aus dem deutschen Wirtschaftsleben“ verbietet den Einzelhandel, die Führung von Handwerksbetrieben, das Warenangebot auf Märkten oder Ausstellungen und die Tätigkeit als leitende Angestellte. Im Gau Westfalen Süd gelten Ende Mai 1938 insgesamt 118 Betriebe als „arisiert“. Bei 58 ist die „Arisierung“ bereits anerkannt, 60 werden noch geprüft. Die Metzgerei Jakob Meyer in Bochum wechselt in den Besitz von Otto Dönninghaus und wird von der Gauleitung als „Frei von jüdischen Einflüssen“ beschrieben. Ähnlich verhält es sich mit dem Bettenhaus Friede, das schon am 3. Dezember 1937 in den Besitz der Firma Korten gewechselt ist. Nur zwei Beispiele von vielen.

Die NSDAP fordert zugleich „arische“ Modehäuser dazu auf, ihre Waren nicht mehr bei jüdischen Firmen zu kaufen. In einer Akte des „Staatsarchives Münster Gauleitung-Süd Gauwirtschaftsberater 424“ wird festgestellt, dass die „Entjudung der Textil- und Bekleidungswirtschaft“ Ende Oktober 1938 „weit fortgeschritten ist“. Die Bochumer Firma Trude Lohmann, vormals Gabali, habe im vergangenen Vierteljahr nur noch für einen Wert von 5.000 Reichsmark bei „nichtarischen“ Unternehmen gekauft. Außerdem befänden sich die Firmen allesamt in der „Arisierung“. Ein Jahr zuvor hatte das Bochumer Kaufhaus Baltz noch erheblichen Ärger bekommen, weil es für rund 400.000 Reichsmark bei „nichtarischen“ Unternehmen gekauft hatte. Der Besitzer des Hauses Baltz war übrigens Mitglied der NSDAP.

In der Pogromnacht vom 9. auf den 10. November 1938 erlebt auch die Stadt Bochum die bis dahin schwersten Übergriffe auf die jüdische Bevölkerung. Die Synagoge an der Wilhelmstraße brennt bis auf die Grundmauern nieder, ebenso das jüdische Casino in der Wittener Straße. Wohnungen und Geschäfte werden geplündert, die Glasscheiben eingeschmissen. „Arisierte“ Betriebe bleiben verschont. Etwa 100 Männer aus Bochum und Wattenscheid werden mit einem Sammeltransport von Dortmund aus ins Konzentrationslager Oranienburg-Sachsenhausen gebracht. Gegen das Versprechen, ihr Eigentum „arisieren“ zu lassen und Deutschland auf dem schnellsten Wege zu verlassen, werden die meisten nach einigen Wochen wieder freigelassen. Bis 1939 sind schließlich 327 Firmen im Gau Westfalen-Süd „arisiert“ worden, davon 28 in der Gauhauptstadt Bochum. Mehr als 300.000 deutsche Juden haben bis 1939 die Flucht ins Ausland angetreten, darunter auch Paula Reichenberg. Sie zieht nach ihrer Emigration in die Schweiz später in die USA weiter.

Geschäftsleute, Ärzte oder Anwälte haben inzwischen in Deutschland keine Zukunft mehr. „Die Praxen der jüdischen Ärzte und Anwälte mussten mit wenigen Ausnahmen bereits unmittelbar nach der Machtübernahme 1933 schließen“, sagt Hubert Schneider. Etliche Arbeiter bleiben in Deutschland und hoffen auf Besserung. Vergebens. Ab 1941 gibt es keine Ausreisemöglichkeit mehr, im November werden die ersten in die Konzentrationslager der Nazis deportiert. Am 27. Januar 1942 werden die ersten Bochumer Juden nach Riga verschleppt. 165.000 deutsche Juden sterben in den Gaskammern von Auschwitz, Lublin oder Treblinka, kommen in Arbeitslagern um oder werden von SS oder Wehrmacht erschossen.

Paula Reichenberg überlebt im US-Exil. Nach Kriegsende stellt sie von ihrem Wohnort San Francisco aus bei der Stadt Bochum einen Antrag auf Entschädigung. Die Kommune solle 300.000 bis 400.000 Deutsche Mark als Wiedergutmachung für den Verlust des alten Grundstücks zahlen. In einer Sitzung der Stadtvertretung vom 19. Oktober 1950 wird schließlich beschlossen, dass Paula Reichenberg 41.500 Mark erhalten soll. Ein ihr zugesprochenes Ersatzgrundstück verkauft sie 1952 für 139.000 Mark an die Stadt. Den Rest ihres Lebens verbringt Paula Reichenberg in San Francisco. Dort stirbt sie am 29. Mai 1961 im Alter von 87 Jahren.

Die Kinder ihrer Töchter Stella und Rosa leben noch heute in den USA. „Die emigrierten Juden kamen nach dem Krieg nicht nach Deutschland zurück“, sagt Hubert Schneider. Auch die Familien der emigrierten Bochumer Kaufleute, Ärzte oder Anwälte seien im Ausland geblieben. Die Geschäfte oder Praxen existieren zum Teil heute noch. Der Besitz der Familie Reichenberg ist am 13. Juni 1943 durch einen Bombenangriff der Alliierten vollständig zerstört worden.