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Archiv-Artikel

Noch 34 Stolpersteine

Erst eines von 35 Verhandlungskapiteln mit der EU hat Ankara bisher abschließen können: Forschung und Wissenschaft

AUS BRÜSSEL DANIELA WEINGÄRTNER

Tonnenweise Papier gab die EU-Kommission gestern an die ungeduldig wartenden Journalisten aus. Allein die Mitteilung zur Erweiterungsstrategie umfasst 68 Seiten, dazu kamen acht dicke Berichte darüber, welche Fortschritte die Kandidatenländer Kroatien, Mazedonien und Türkei sowie die übrigen Westbalkanstaaten auf dem Weg in die Europäische Union gemacht haben. Doch die türkischen und zypriotischen Kamerateams, die sich schon am Morgen vor dem Kommissionsgebäude postiert hatten, interessierten sich wenig für die akribisch aufgelisteten Leistungen und Defizite in den Bereichen Demokratie, Minderheitenrechte und Wirtschaftsentwicklung.

Sie wollten wissen, ob die EU-Kommission den Mitgliedsstaaten empfehlen wird, die Verhandlungen mit der Türkei auf Eis zu legen. Ende Dezember läuft die Frist aus, in der Ankara seine Verpflichtung einlösen muss, Handelsbeziehungen mit der griechischen Republik Zypern aufzunehmen. Geschieht das nicht, steht der Europäischen Union ein Instrumentarium an möglichen Reaktionen zur Verfügung. Bis zum Beitritt müssen 35 Politikbereiche geprüft und mit den europäischen Mindestanforderungen abgeglichen werden. Diese Prozedur wurde bislang nur für einen Bereich erfolgreich durchgeführt – im Juni eröffneten die Verhandlungspartner das Kapitel Forschung und Wissenschaft und schlossen es auch am selben Tag wieder.

Weitere 34-mal müssen die 25 EU-Vertreter in den nächsten Jahren einstimmig dafür votieren, ein weiteres Kapitel zu öffnen und nach erfolgreichen Verhandlungen wieder zu schließen. Hebt nur ein einziges Land – zum Beispiel die griechische Republik Zypern – den Finger nicht, liegen die Verhandlungen ohne große Erklärungen und öffentliche Drohungen auf Eis. Ein wesentlich größerer diplomatischer Knalleffekt würde erzeugt, wenn die Mitgliedsstaaten auf den Verhandlungsrahmen zurückgreifen würden, den sie sich im Oktober 2005 gaben.

Er sieht eine Suspendierung der Verhandlungen für den Fall vor, dass die grundlegenden Werte der Union wie Menschenrechte und Demokratie in der Türkei fortdauernd verletzt werden. Für einen derartigen Beschluss würde die qualifizierte Mehrheit der Mitgliedsstaaten genügen – ganz im Gegensatz zu allen anderen mit einer Erweiterung zusammenhängenden Entscheidungen.

Der finnische Erweiterungskommissar machte allerdings klar, dass er weiterhin Hoffnungen in die diplomatischen Bemühungen der finnischen Ratspräsidentschaft setzt, noch bis Ende des Jahres einen Kompromiss im Zypernstreit zu finden. Finnland hatte der Türkei angeboten, dass gleichzeitig mit der Öffnung türkischer Häfen und Flughäfen für zypriotische Waren aus dem griechischen Teil der Insel auch ein Hafen im türkisch-zypriotischen Norden für EU-Waren geöffnet werden sollte. Ein geplantes Treffen, bei dem dieser Kompromissvorschlag diskutiert werden sollte, war aber letzte Woche geplatzt.

„Letzte Chance auf viele Jahre“

„Warum sollten wir uns wie ein Elefant im Porzellanladen verhalten, während die finnische Präsidentschaft noch versucht, einen Ausweg zu finden?“, fragte Olli Rehn. Wenn die Türkei ihre Verpflichtungen bis Mitte Dezember nicht erfülle, werde die Kommission dem Rat Konsequenzen empfehlen. Bis dahin aber rate er allen Mitgliedsstaaten, den finnischen Kompromissvorschlag zu unterstützen. Er sei auf Jahre hinaus die letzte Chance, in der Zypernfrage zu einer gütlichen Einigung zu kommen.

Rehn warnte davor, über der Zyperndebatte die Fortschritte aus den Augen zu verlieren, die die Türkei seit dem letzten Bericht vor einem Jahr gemacht habe. So werde ein Ombudsman eingeführt, der die Rechte der Bürger gegenüber staatlichen Behörden stärken solle. Das Parlament befasse sich mit einem neuen Gesetz über religiöse Stiftungen. Die Tatsache, dass Staatspräsident Erdogan zivile Organisationen aufgefordert habe, Verbesserungen zum Strafgesetzbuch vorzuschlagen, sei ein gutes Zeichen. Der viel zitierte Paragraf 301 allerdings, der Beleidigungen des Türkentums unter Strafe stellt, müsse gestrichen werden.

Der Erweiterungsprozess, sagte Rehn am Ende, sei kein Hochgeschwindigkeitszug wie der Eurostar. Er erinnere vielmehr an den gemütlichen Orientexpress, in dem die Sicherheit der Passagiere und der gute Service an erster Stelle stünden. In der Türkei wird diese Botschaft auf wenig Begeisterung stoßen. Viele dort setzen lieber auf Tempo als auf Bequemlichkeit bei der Fahrt in die Europäische Union.