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Archiv-Artikel

„Hellsichtige Texte“

Gedenken Eine Gedichtlesung erinnert an Menschen, deren Werke die Nazis am 10. 5. 1933 verbrannten

Von BES
Raimund Gaebelein

■ 66, Historiker und Philosoph, Landesvorsitzender der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes/Bund der AntifaschistInnen.

taz: Herr Gaebelein, der Ort der Gedenkveranstaltung ist geschichtsträchtig …

Raimund Gaebelein: Ja, der ist wichtig: Der ehemalige Spielplatz an der Nordstraße, wo heute die Bügermeister-Deichmann-Straße verläuft, war ein Demonstrationsort der frühen Friedensbewegung und der Linken. Hier fanden ab 1915 bis 1917 Kundgebungen gegen den Krieg statt und für die Freilassung von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg. Und noch am 4. März 1933 war der Platz das Zentrum der Proteste wegen des Mordes an Johann Lücke, den die SA drei Tage zuvor erschossen hatte.

Und dort brannten am 10. 5. 1933 die Bücher?

Ja: Die Nazis haben diesen Platz für die Bücherverbrennung genau wegen seiner Bedeutung für die Arbeiterbewegung gewählt, weil es ein politischer Platz war.

Zum Gedenken an die Bücherverbrennung tragen Sie Texte von Walter Mehring vor, dessen Werk groß ist und vielseitig – und unbekannt.

Das ist mit ein Grund, weshalb wir ihn ausgesucht haben: Wir wollen ja an die Leute erinnern, deren Werke dort verbrannt wurden – und die in der Folge oft bis heute in Vergessenheit geraten sind. Das gilt gerade auch für Mehring, der ja ein bedeutender Autor war.

Er hat mit „Die verlorene Bibliothek“ 1952 die Geschichte der Bibliothek seines Vaters als essayistische Allegorie auf die bürgerliche Bildung bis zu ihrer Vernichtung geschrieben. Lesen Sie daraus vor?

Nein, wir beschränken uns auf Gedichte, die lassen sich besser rezitieren, 18 haben wir ausgesucht. Wahr ist, dass in Mehrings sehr hellsichtigen Texten auch die Entwicklungslinie vom Ersten Weltkrieg bis zum Nazi-Regime außerordentlich deutlich ist. Das scheint uns, 100 Jahre nach dessen Beginn, sinnvoll.

Viele der Gedichte sind ja vertont: Singen Sie die?

Nein. Meine Stimme ist leider ziemlich im Eimer.

INTERVIEW: BES

Gedenkveranstaltung: 15 Uhr, Bürgermeister-Deichmann-Str. 34, bei Regen in den Räumen des Alleinerziehenden-Verbandes