Die Sprengkraft der Grenzgänger

SPRACHSUCHE Zwischen Texarkana und Mexicali: Dorothee Elmigers Neuverfugung der Welt

Wo einst natürliche oder staatliche Grenzen die Karten teilten, gilt es nun, die kontinentale gedankliche Tektonik neu zu verfugen

VON BJÖRN HAYER

Wie nah ist die Wirklichkeit dem Traum? Mit ihrem zweiten Roman, „Schlafgänger“, entführt uns Dorothee Elmiger in schimmernde Zwischenreiche aus Halluzination, Erinnerung und Phantasmagorie – und zugleich in ein Sprechen über ein drängendes politisches Problem der Gegenwart: die Migration und den Umgang damit. Der Leser hört einem Gespräch unter Lebenskünstlern und Hobbyphilosophen zu, das ihm einen rätselhaften Erzählkosmos eröffnet. Statt auf eine lineare Handlung setzt die Autorin auf Miniaturgeschichten. Man spricht über das Reisen, das Übersetzen und stets von Grenzziehungen und -übertretungen. Übrig bleiben mehr Fragen als Antworten – ein Labyrinth aus tausend Möglichkeiten, wo jede Suche nach dem richtigen Weg scheitern muss. Im Gegenteil: sich verlaufen ist erwünscht.

Schlaflose Logistiker

Leitmotivisch führen die tranceartigen Ausführungen eines nicht näher benannten „Logistikers“ in das Geschehen ein. Als wäre ihm nach Tagen der Schlaflosigkeit das Realitätsvermögen entglitten, beschreibt er, wie auf einmal verschiedene „Schlafgänger“ seine Wohnung bevölkern und seither dort als inzwischen von ihm akzeptierte, aber immer noch gespenstische Zeitgenossen hausen. Der „Student aus Glendale“, ein weiterer Gesprächsteilnehmer, weiß hierzu ebenfalls von einem Amerikaner zu erzählen, „der vor gut fünfzig Jahren rund zweihundert Stunden ohne Schlaf zugebracht habe. Am fünften Tag habe der Mann behauptet, er sähe Spinnen, die aus seinen Schuhen kröchen“.

Indem jede Figur für sich ihre eigenen Reiseerfahrungen schildert, überwinden sie gemeinsam imaginative wie auch politische Koordinaten. In Zeiten, in denen das europäische Projekt nicht zuletzt durch nationalstaatliche Alleingänge, Erschütterungen auf den Finanzmärkten oder auch die aktuelle Ukrainekrise mehr denn je infrage steht, liest sich Elmigers Text wie eine polyphone Anleitung zur gegenseitigen Anerkennung der Unterschiedlichkeit. Um Migration neu zu begreifen, driftet sie weder in weichgespülte Schicksalsgeschichten noch in ein Schubladendenken zwischen dem Eigenen und Fremden ab, sondern wählt den Weg des permanenten, intellektuellen Ideenaustauschs. Dadurch gelingt es der 1985 im Kanton Zürich geborenen Schriftstellerin, die brisante Gemengelage zu problematisieren und politische Möglichkeitsräume anzudeuten, ohne aber banalen Lösungen aufzusitzen. Der Europäer und Kosmopolit entsteht im Kopf, in der Macht des Wortes und im ständigen Austausch.

Sinnbildlich ist daher auch immer wieder die Rede von Städten in Übergangsbezirken wie beispielsweise Texarkana (eine Kombination aus Texas und Arkansas) oder Mexicali, „deren Name Mexico und California verbindet“.

Mit ihrer literarischen Collage aus Konjunktiven, Zitaten und Assoziationen erweist sich Elmiger als talentierte Magierin in Sachen Wortalchemie. Ihre Euphorie für wundersame Übergangswelten tippt an eine utopische Kraft, die sie bereits in ihrem erstaunlichen Debüt „Einladung an die Waghalsigen“ (2010) beschwört. Um aus einer postapokalyptischen Wüstenregion auszubrechen, begeben sich darin zwei Mädchen auf die Suche nach einem mirakulösen Fluss namens Buenaventura, dessen Existenz lediglich einige vergilbte Schriften bezeugen – ein Appell zum Aufbruch einer perspektivlosen Jugend, der das Potenzial zum Generationenroman in sich trägt.

Während der Leser in diesem Werk noch eine enge Verbindung zu den Protagonistinnen aufbauen kann, bleiben die Redekünstler ihres aktuellen Prosabandes jedoch unzugänglich und artifiziell. Das mag verstören. Doch die Konturlosigkeit und Anarchie ist gewollt. Indem Dorothee Elmiger schon zu Beginn in einer Traumszene die Alpen zum Einsturz bringt, lässt sie das gewohnte Terrain hinter sich. Wo einst natürliche oder staatliche Grenzen die Karten teilten, gilt es nun, die kontinentale gedankliche Tektonik neu zu verfugen. Selbstbewusst zeigt dieses Buch: Ein gewachsenes Europa braucht passionierte Erzähler, Übersetzer und allen voran eine vielschichtige Literatur.

Dezidierte Schweiz-Kritik

In dem Debütroman klammern sich die beiden Heldinnen inmitten ihrer Endzeitwelt anfangs noch an alte Bücher, um etwas über ihre Vergangenheit zu erfahren. Erst allmählich setzen sie sich davon ab und beginnen, ihrem Dasein mit eigenen Worten Form zu geben. Nun setzt Dorothee Elmiger diese experimentelle Sprachsuche in dem Reigen der Erfahrungsberichte fort.

Dass die Autorin damit aber nicht nur die Grenzen unserer Fantasie im elektrostatisch aufgeladenen Luftraum zwischen Tag und Traum sprengt, offenbart sich nicht zuletzt in ihrer dezidierten Schweiz-Kritik. Der von ihr diagnostizierten Angst der Eidgenossen vor den „Zigeunerbanden“ und einfallenden Asylanten stellt sie mutig das Modell einer durchmischten Menschheitsfamilie entgegen, deren Verbindung eben nicht in ihrem gemeinsamen Ursprung, sondern in der Vielzahl ihrer Geschichten besteht. Ein mondänes, hellsichtiges Buch!

Dorothee Elmiger: „Schlafgänger“. DuMont, Köln 2014, 160 Seiten, 18 Euro