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Archiv-Artikel

Der Abstieg

Wer einmal ins „soziale Abseits“ gerutscht ist, hat es schwer wieder nach oben zu kommen. Hartz IV-Empfänger bekommen in Hamburg immer schwerer eine Wohnung. Wer keine feste Bleibe findet, landet in der Obdachlosigkeit. Ein Tag im Leben eines jungen Mannes, der obdachlos wurde

„Wenn ich sage, ich beziehe Hartz IV, dann wollen die mich nicht mehr haben“

AUS HAMBURG NILS NABER

Montag, 11:50 Uhr

Heute muss Mirko Babic* sein Zimmer im Jakob-Junker-Haus verlassen. Er stopft seine letzten Habseligkeiten in einen schwarzen Rucksack, einen grünen Rollkoffer und ein Plastikkörbchen. Er bringt sie aus dem vierten Stock hinunter zu dem weißen Volvo, den er sich von einem Freund geliehen hat.

12 Uhr

Der 33-Jährige gibt den Schlüssel ab und setzt sich in den Wagen: „Ich muss jetzt erstmal nachdenken.“ Er steckt sich eine Zigarette an, startet den Wagen, schnippt die Asche aus dem Fenster. Seine dunklen Haare verbergen sich unter einer grünen Baseball-Kappe. „International Parcel Service“ steht in dicken Buchstaben vorne drauf. Mirko Babic ist ein Fan von „King of Queens“, einer US-TV-Serie, in der ein Kurierfahrer die Hauptrolle spielt.

Er kann diesen Rauswurf aus dem Jakob-Junker-Haus nicht verstehen: „Erst haben sie mich aus der Obdachlosigkeit geholt und jetzt entlassen sie mich wieder in die Obdachlosigkeit.“ Zwei Jahre hatte er im Hamburger Norden in dem Haus der Heilsarmee gewohnt. Eineinhalb Jahre davon suchte er intensiv nach einer eigenen Wohnung, doch bis heute hat er nichts gefunden. Babic ist wütend: „Bei allen Wohnungsbaugesellschaften habe ich mich beworben, aber wenn ich sage, ich beziehe Hartz IV, dann wollen die mich nicht mehr haben.“ Sogar Bettelschreiben habe er schon an Vermieter geschickt. Es half nichts.

Babic macht seine Betreuer im Jakob-Junker-Haus für seine Situation verantwortlich: „Wieso kommt nicht jeden Tag jemand und sagt: So, jetzt wird eine Wohnung gesucht?“ Schließlich bekäme die Einrichtung rund 1.800 Euro monatlich für seine Betreuung. Dass er selbst einige Termine mit einem Schuldnerberater und einer Ärztin im Haus nicht eingehalten hat, erwähnt er nur nebenbei. Warum er das Jakob-Junker-Haus jetzt verlassen muss, will die Einrichtung aus Datenschutzgründen nicht sagen.

„Ich weiß nicht, was ich machen soll! Vielleicht abmelden.“ Babic fährt zum

Bezirksamt Hamburg-Nord. „Ich will mich abmelden, ich bin obdachlos.“ „Da müssen Sie ins Bezirksamt Mitte“, antwortet der Sachbearbeiter.

Draußen ist es kalt geworden, die Blätter haben sich gelb gefärbt. Babic steigt wieder in seinen Wagen und fährt ins Stadtzentrum. Auf dem Parkplatz klemmt er hinter die Windschutzscheibe einen Zettel: „Ich melde mich gerade obdachlos, habe kein Geld für einen Parkschein, bitte haben Sie Mitleid.“

Im Einwohnermeldeamt Mitte warten viele Menschen darauf, dass die roten Zahlen über den SachbearbeiterInnen ihren gezogenen Nummern näherkommen. Ein Mann am Empfangstresen hält Babic vor, er wäre nicht obdachlos: „Sie leben nicht auf der Straße, so sehen Sie nicht aus.“ Er soll sich abmelden und dann irgendwo wieder anmelden. Babic ist ungeduldig, will nicht warten, wirft seine Nummer in den Papierkorb und geht.

Geld muss her. Er biegt auf die Ost-West-Straße ein und zündet sich eine neue Zigarette an. Er dreht das Fenster einen Spalt auf: „Nach der Mittleren Reife wollte ich aufs Gymnasium, doch die Bundeswehr hat dann gesagt: Das kann warten und hat mich eingezogen.“ Er war 15 Monate bei den Feldjägern. Immer wieder hat er beim Bund verlängert, um nicht in die Arbeitslosigkeit entlassen zu werden. Danach wollte er Polizist werden. „Für die bin ich doch extra Deutscher geworden.“ Vorher war er Jugoslawe. Wie seine Mutter. Die Polizei wollte ihn nicht – „schlechter Leumund“, sagt Babic.

Babic parkt auf der Reeperbahn. Auf der anderen Straßenseite steht auf einem gelben Schild: „Leihhaus“. Seine altePlaystation geht für 50 Euro in bar unter der Glasscheibe durch. Wieder zum Wagen.

13:30 Uhr

Die Fahrt geht an den roten Klinkerbauten des Hamburger Ostens entlang. „Ich habe in Wedel schon einmal studiert“, sagt Babic. Er meint damit einen Ausbildungsgang an einer Berufsfachschule. „Technischer Assistent für Informatik wollte ich werden. Das Studium hat 1.200 Euro pro Semester gekostet. Zusammen mit der Miete konnte ich mir das nicht leisten. Ich bin in die Schuldenfalle geraten.“ Babic ist zuerst in verschiedenen WGs untergekommen – später bei seiner Mutter. Dort hat es immer wieder Streit gegeben, dann ist er ausgezogen. „Irgendwann bin ich mit einem Berg von Schulden im Jakob-Junker-Haus gelandet.“

Babic wünscht sich so zu sein wie alle anderen auch: „Ich will einfach mit einer Kreditkarte einkaufen gehen und ein Auto mieten können, ohne dass ich schief anguckt werde. Ich will einfach ein vollwertiges Mitglied der Gesellschaft sein und einen richtigen Beruf haben.“ Heruntergekommene Obdachlose „widern mich an“, sagt er.

„Ich kann eben nicht mit Behörden“, sagt Babic. Mahnungen zerreißt er grundsätzlich bis der Gerichtsvollzieher kommt. „Dann unterschreibe ich eine eidesstattliche Versicherung, ich habe ja kein Geld.“

15 Uhr

Babic hält vor dem Haus der Jugend im Bezirk Wandsbek. Ein Flachbau aus roten Klinkersteinen. Hier fühlt sich Mirko Babic akzeptiert. Er ist Interessengruppenleiter und für die Computer zuständig. Jüngere fragen ihn um Rat und hier verdient er sich einige Euro dazu. Mit dem Geld hat er sich schon einen eigenen Computer gekauft.

In einem Nebenzimmer geht er wieder auf Wohnungssuche im Internet. „3.125 Wohnungen gibt es heute in Hamburg, ganze vier kann ich mir leisten“. Er ruft bei einer Baugenossenschaft an. „Nehmen Sie Hartz-V-Empfänger auf?“ Die Antwort ist negativ, es gibt zu viele davon, er muss sich auf die Warteliste setzen lassen, klingt es aus dem Handy.

Ein Anruf bei einer anderen Firma, die gleiche Frage, Antwort: ja, bei positiver Schufa. Babic hat eine negative Schufa und sogar Mietschulden. Er will heute Nacht bei seinem Bruder unterkommen, was dann kommt, weiß er nicht. Er ist jetzt obdachlos.

*Name von der Redaktion geändert.