: Kriminelle künftig krank
UNTERBRINGUNG Mehr als 100 Sicherungsverwahrte müssten freikommen. Die Regierung etikettiert die Gefangenen daher um
■ 1933: Die Nazis führen die Sicherungsverwahrung (SV) für „gefährliche Gewohnheitsverbrecher“ ein.
■ 1942: Für Gewohnheitsverbrecher wird die Todesstrafe eingeführt.
■ 1945: Die Alliierten heben die Todesstrafe für Gewohnheitsverbrecher auf, lassen die SV aber bestehen.
■ 1952: Das Oberste Gericht der DDR stuft die SV als „inhaltlich faschistisch“ ein. Sie wurde nun nur noch in der BRD angewandt.
■ 1969: Die SV wird auf zehn Jahre begrenzt.
■ 1990: Bei der Wiedervereinigung verzichtet Ostdeutschland auf die SV.
■ 1994: Jetzt will der Osten doch die SV und bekommt sie.
■ 1998: Die Begrenzung der SV auf zehn Jahre wird gestrichen, auch für Altfälle.
■ 2001: Kanzler Gerhard Schröder (SPD) fordert für Sexualtäter (in der Bild-Zeitung): „Wegschließen – und zwar für immer“.
■ 2001: Baden-Württemberg führt ein Landesgesetz zur nachträglichen Anordnung der SV an, andere Länder folgen.
■ 2002: Im Bund wird die vorbehaltene SV eingeführt.
■ 2004: Das Bundesverfassungsgericht akzeptiert die rückwirkende Verlängerung der SV für Altfälle.
■ 2004: Der Bundestag führt die nachträgliche SV bundesweit ein.
■ 2007: SV für DDR-Altfälle wird eingeführt.
■ 2007: SV wird auch für Taten ermöglicht, die unter Jugendrecht fallen.
■ 2009: Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte erklärt die 1998 beschlossene rückwirkende Verlängerung der SV für unzulässig. (chr)
AUS FREIBURG CHRISTIAN RATH
Psychisch gestörte Gewalttäter sollen nicht aus der Sicherungsverwahrung entlassen werden – auch wenn sie eigentlich von einem Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) profitieren könnten. Das beschloss gestern der Bundestag mit den Stimmen der schwarz-gelben Koalition und der SPD. Der Linke Wolfgang Neskovic sagte: „Hier wurde dem Ruf der fünften Gewalt – der Stammtische – nachgegeben.“ Die Grünen zeigten sich „enttäuscht.
Bei der Sicherungsverwahrung muss ein Täter auch nach Verbüßung seiner Strafe im Gefängnis bleiben – so lange, bis er nicht mehr als gefährlich gilt. Derzeit sitzen in Deutschland mehr als 500 Personen in Sicherungsverwahrung, Tendenz stark steigend. Alle zwei Jahre muss überprüft werden, ob der Täter noch gefährlich ist. Justizstaatssekretär Max Stadler (FDP) nannte die Sicherungsverwahrung gestern im Bundestag das „letzte und einschneidendste Mittel des Strafrechts“. Es wurde gestern grundlegend reformiert (siehe unten).
Im Mittelpunkt der letzten Monate stand aber eine „Sondersituation“ (Stadler), die durch ein EGMR-Urteil aus dem letzten Dezember ausgelöst wurde. Der Straßburger Gerichtshof hatte auf Klage eines hessischen Gewaltverbrechers die rückwirkende Verlängerung der Sicherungsverwahrung im Jahr 1998 beanstandet. Bis dahin war die Verwahrung auf zehn Jahre befristet, jetzt kann sie unbefristet verhängt werden – auch für Taten, die vor 1998 begangen wurden. Der EGMR sah darin einen Verstoß gegen das Rückwirkungsverbot für Strafgesetze, denn die Sicherungsverwahrung sei nach ihrer Ausgestaltung kaum von einer Freiheitsstrafe zu unterscheiden.
Auf dieses Urteil können sich in Deutschland zurzeit 122 Verwahrte berufen. Nach und nach kommen noch 230 weitere Personen hinzu, sobald sie ihre Haftstrafe und anschließend zehn Jahre Verwahrung abgesessen haben. Entlassen wurden bisher aber nur 17 Personen. Teilweise werden sie rund um die Uhr von Polizisten bewacht, zusätzlich soll künftig auch die elektronische Fußfessel eingesetzt werden können. Boulevardmedien brandmarkten jede Entlassung als „Irrsinn“.
In der Politik hatte sich deshalb schnell die Stimmung durchgesetzt, dass eine Entlassung der betroffenen Altfälle nach Möglichkeit verhindert werden soll. Auf Druck der CDU/CSU legte deshalb Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger ein „Gesetz zur Therapierung und Unterbringung psychisch gestörter Gewalttäter“ (ThUG) vor, das gestern im Bundestag beschlossen wurde. Es gilt auch für Personen, die bereits aus der Verwahrung entlassen wurden.
Das ThUG will eine neue Rechtsgrundlage für die Inhaftierung der Personen schaffen, die eigentlich entlassen werden müssten. Es stellt darauf ab, dass die Europäische Menschenrechtskonvention, die zwangsweise Unterbringung von psychisch Kranken erlaubt, auch ohne vorherige Verurteilung.
Kritiker wie Neskovic kritisieren: „Man darf Straftäter nicht einfach zu psychisch Gestörten erklären, nur um sie einsperren zu können. Das ging in der Sowjetunion, nicht aber im Rechtsstaat.“ Tatsächlich wurden die Betroffen einst vor Gericht als voll schuldfähig eingestuft. Das Justizministerium geht aber davon aus, dass es psychische Störungen gibt, die die Täter gefährlich machen, ohne ihre Schuldfähigkeit zu beeinträchtigen. Gemeint ist vor allem die dissoziale Persönlichkeitsstörung, die zu abnormer Aggressivität und mangelnder Empathie mit Opfern führt.
Ob Straßburg das ThUG sicher kassieren wird, wie Linke und Grüne meinen, ist noch nicht sicher. Dort wird man nicht das Gesetz, sondern konkrete Fälle prüfen. Entscheidend dürfte also zum einen die Praxis der Gutachter, zum anderen die Art der Unterbringung sein. Im Gesetz heißt es, die Unterbringung solle „räumlich und organisatorisch“ getrennt vom Strafvollzug erfolgen.
Sicher ist jedenfalls, dass nicht alle vom Straßburger Urteil Betroffenen hinter Gitter bleiben werden. Doch wie die übrigen in Freiheit kommen, ist noch offen. Einige Oberlandesgerichte haben unter Berufung auf Straßburg bereits Entlassungen angeordnet, andere haben sie abgelehnt. Der als Oberschiedsrichter eingesetzte Bundesgerichtshof (BGH) kam im November zu dem Schluss, dass die Gerichte das Straßburger Urteil nicht selbst umsetzen könnten. Das letzte Wort hat wohl der Große Strafsenat des Bundesgerichtshofs. Am einfachsten wäre es gewesen, wenn nun der Gesetzgeber die Freilassung anordnet. Doch Leutheusser-Schnarrenberger hat in ihrem Gesetzentwurf darauf verzichtet. Ein solcher Antrag der Grünen zur Änderung des Strafgesetzbuches wurde jetzt abgelehnt. So schieben sich Politik und Justiz den Schwarzen Peter zu.