Der Verfassungsschutz foltert Bürger mit Sendern

KINO Überwachung: Der Film „Die Wirklichkeit kommt“ fragt, ob unsere Wahnvorstellungen von der Realität überholt werden

Der „Sendermann“ war eine wichtige Gestalt des alten Westberlin. Zwischen 1972 und 1978 überzog der kräftige Mann die Westberliner Innenstadt mit klassisch paranoiden Schriften. An Wochenenden zog er mit Transparenten über den Ku’damm und rief dabei: „Bürger! Entwickelt Initiative! In jedem 3. Haus CIA und Abschirmdienst mit Sendern! Wehrt euch! Der Verfassungsschutz foltert Bürger mit Sendern!“ Er war davon überzeugt, dass in Haushaltsgeräten, Kleidungsstücken und Einrichtungsgegenständen Aufzeichnungsgeräte verborgen sind, die alles protokollieren. Seine Paranoia fiel sozusagen auf fruchtbaren Boden. Spätestens seit dem Deutschen Herbst, der Einführung der Rasterfahndung, hatte man in der linken Szene große Angst vor der totalen Überwachung, gegen die man sich vor 30 Jahren mit einem erfolgreichen Boykott der damals anberaumten Volkszählung zu wehren suchte.

Der Alltagskünstler Andreas Seltzer hat in diesem Jahr eine Ausstellung über den Sendermann gemacht. Auch in Niels Bolbrinkers kurzweiligem Dokumentarfilm „Die Wirklichkeit kommt“ spielt er eine tragende Rolle. Der Film erzählt von Paranoikern wie dem Sendermann und setzt ihre Zwangsvorstellungen parallel mit den tatsächlichen Möglichkeiten der Überwachung aller möglichen menschlichen Äußerungen und den Versuchen der Neurowissenschaften, die Gehirnströme der Menschen zu beeinflussen.

Bolbrinker versucht zu zeigen, dass die Wahnsysteme der Paranoiker, die sich via Internet zu Gruppen wie den „Mind Control Victims“ zusammengeschlossen haben, nicht so weit von der Wirklichkeit entfernt sind, wie man zunächst vielleicht annimmt.

Der Film schildert die Reise eines naiven, neugierigen Ichs, einer Kunstfigur, die den Zuschauer repräsentiert. Auf dem Teufelsberg, der ehemaligen Flugüberwachungs- und Abhörstation der US-amerikanischen Armee, die seit 1999 verfällt, trifft das Erzähler-Ich einen Paranoiker namens Harald, begleitet ihn eine Weile. Harald fühlt sich von Mikrowellenwaffen bedroht, ist sich sicher, dass all seine Regungen registriert werden, hat das Gefühl, Teil eines freien Feldversuchs zu sein, verteilt Flugblätter gegen Mikrowellenwaffen usw.

Der Regisseur lässt sich das alles erzählen und vergleicht die Wahnvorstellungen mit den tatsächlichen Möglichkeiten von Überwachungstechnologien. Er berichtet von geheimdienstlichen Fantasien aus den 20er Jahren, von den CIA-Experimenten aus den 50er Jahren mit den erhofften „Wahrheitsdrogen“ LSD und Meskalin, reist nach Ottawa zu einer Messe über nichttödliche Waffen, unterhält sich mit Constanze Kurz vom Chaos-Computer-Club über demokratiegefährdende Überwachungstechniken, spricht mit Forschern über biologische Kybernetik, trifft andere Paranoiker, die mit großem technischem Geschick versuchen, sich vor Strahlen zu schützen.

Die Arbeitsthese, die dem Film zugrunde liegt – „Unsere Wahnvorstellungen sind dabei, von der Wirklichkeit überholt zu werden“ –, erfüllt sich vielleicht zu erwartungsgemäß; irgendwie kommt einem der Film auch viel zu kurz vor. Man hätte auch gern gewusst, ob die Paranoiker, die in dem Film auftauchen, in ärztlicher Behandlung sind, und was ihre Ärzte dazu sagen.

DETLEF KUHLBRODT

■ Der Film startet am 15. Mai