Odyssee eines Rechtlosen

COMIC Auch das ist Europa: „Unsichtbare Hände“, eine aktuelle Geschichte zur Migration von Nordafrika nach Spanien, die der finnische Zeichner Ville Tietävainen recherchierte

TEXT UND INTERVIEW RALPH TROMMER

Eine Stadt in Marokko. Nachdem der junge Familienvater Rashid seine Stelle als Näher verloren hat und in seiner Heimat keine Möglichkeit mehr sieht, seine Familie zu ernähren, begibt er sich auf die „Harraga“, die illegale Einreise in die EU. Er versucht, Spanien über die Straße von Gibraltar in einem überfüllten Schlauchboot zu erreichen. Doch eine Küstenpatrouille entdeckt das Boot. Rashids bester Freund ertrinkt. Er selbst erreicht das Festland und sein Ziel: die Obst- und Gemüse-Treibhäuser Almerías, wo die „Papierlosen“ gebraucht werden, um Schwerstarbeit zu verrichten, die die Einheimischen nicht machen wollen. Ein Teil seines bescheidenen Einkommens erhalten die Schlepper, den Rest bekommt die Familie in Marokko – er selbst lebt in einer Art Favela und arbeitet unter gesundheitsschädlichen Bedingungen.

Um den Schleppern zu entkommen, täuscht er seinen Tod vor und reist in die verheißungsvolle katalanische Metropole Barcelona, wo er sich als Straßenhändler und lebende Statue durchschlägt, dabei jedoch weiter herunterkommt – was zum schockierenden wie „erlösenden“ Finale führt.

Ville Tietävainen, geboren 1970, ist ein finnischer Illustrator und Comiczeichner, der in seiner dritten Graphic Novel „Unsichtbare Hände“ (Avant-Verlag, Berlin 2014) exemplarisch das Schicksal eines illegalen nordafrikanischen Wirtschaftsflüchtlings erzählt, wofür er mit dem höchsten Kulturpreis Finnlands ausgezeichnet wurde. Mit dem Sozialanthropologen Marko Juntunen begab er sich 2005–2006 zur Recherche in marokkanische Armenviertel und sprach mit Plantagenarbeitern in Spanien, die auf Müllhalden wohnten.

Als dornige Passion, aber ohne Pathos beschreibt Tietävainen den Weg des anständigen, etwas naiven Rashid, dessen Traum von einem besseren Leben sich nie erfüllen wird. Atmosphärisch dicht, in düsteren, pestizidgiftgelben Farben gehalten, überzeugt die Graphic Novel durch eine spannende, sich zuspitzende Dramaturgie, die der Realität verhaftet bleibt. Es gelingen lebensnahe, oft brutale Charakterisierungen verschiedener gesellschaftlicher Typen, seien es Rashids Plantagen-Gefährten oder korrupte Polizisten. Eine besonders überzeugende Episode zeigt zwei Islamisten, die versuchen, unter den Arbeitern Anhänger zu „fischen“, und sich dabei in haarspalterische Diskussionen verheddern.

taz: Herr Tietävainen, wie kommt ein Comiczeichner vom äußersten Norden Europas dazu, eine Geschichte über die Flüchtlingsproblematik in Südeuropa zu erzählen?

Ville Tietävainen: 2001 bin ich in Paris einem Nordafrikaner begegnet, der Superhelden-Spielzeugfiguren verkaufte, die man an Schaufenster wirft und die dann daran „herunterklettern“. Er hatte ein zerrissenes Jackett an und machte einen traurigen, geradezu hoffnungslosen Eindruck. Diese Begegnung hat mich nicht mehr losgelassen. Ich wollte eine Geschichte machen über jemanden wie ihn: seine Motive, warum er nach Europa gekommen ist, seine Träume. Damals wusste ich noch sehr wenig über die ganze Problematik der Papierlosen.

Die Idee sollten Sie aber erst Jahre später umsetzen.

Vier Jahre später erfuhr ich von den anthropologischen Thesen Marko Juntunens zum Thema, die viele meiner Fragen, aber auch Antworten darauf enthielten. Ich bat ihn um Hilfe – und so wurde Marko mein Führer und Dolmetscher. 2005 reisten wir das erste Mal zusammen nach Marokko. In der Stadt Larache an der Atlantikküste gab es in jeder Familie Menschen, die nach Europa wollten. Wir trafen einen Familienvater in meinem Alter, der es schon drei Mal versucht hatte.

In Spanien war es sicher schwieriger, an die betroffenen Menschen heranzukommen?

Ja, in der Region Almería, in Südspanien, war das komplizierter. Dort, wo die großen Treibhäuser sind, arbeiteten damals etwa 40.000 Menschen, ohne gültige Papiere. Wir knüpften Kontakte zum Roten Kreuz, zu NGOs. Nach und nach gelang es uns, auch einzelne Arbeiter zu überzeugen, dass uns nicht der Staat geschickt hatte, um sie nach Hause zurückzubringen. Dadurch, dass Marko ihre Sprache und ihren Slang beherrscht, erwarben wir ihr Vertrauen. Sie zeigten uns ihre „Dörfer“, die sie aus Müll und Überresten früherer Treibhäuser gebaut hatten.

Warum ausgerechnet Almería?

In Marokko war Almería sehr bekannt, jeder wusste, dass man ohne Papiere dort arbeiten konnte. In Wirklichkeit war es ein besonders trostloser Ort, Endstation für viele. Barcelona und seine Textilfabriken hingegen wurden als Paradies angesehen. Die Arbeitslosigkeit unter Spaniern war noch nicht so hoch wie heute. Ich habe gehört, dass heute durch die Finanzkrise auch Spanier in den Treibhäusern arbeiten. Damals arbeitete kein einziger Spanier dort, außer den Chefs waren es ausschließlich Nordafrikaner und ein paar Rumänen. Es war ein Schock für uns zu sehen, wie die lokale Polizei, Grenzpatrouillen, Menschenhändler, Arbeitgeber in enger Zusammenarbeit von der Billiglohnindustrie profitierten. Die Arbeiter blieben rechtlos.

Sind Sie später noch einmal an diesen Ort zurückgekehrt?

2006 wollten wir einige Betroffene wiedertreffen. Doch durch das dort übliche Bewässerungssystem wird die Erde schnell salzig und unbrauchbar. Die alten Treibhäuser werden verlassen und an anderer Stelle neue aufgebaut. Und die Leute ziehen um. Es war unmöglich, unsere Bekannten wiederzufinden. Es ist eine humanitäre wie ökologische Katastrophe. Aber wir essen das Gemüse, das dort produziert wird.