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Archiv-Artikel

„Schluss mit Lügen!“

DIE WAHRHEIT-HOMESTORY Thilo Sarrazin packt aus. Alles muss raus

Das gemütliche Wohnzimmer ist komplett mit schweren persischen Teppichen ausgelegt

Als Thilo Sarrazin mir die Tür öffnet, macht er einen gelösten Eindruck. Man sieht ihm an, dass er froh ist, es hinter sich zu haben. „Salam aleikum, junger Mann, kommense rein, könnense rauskucken. Aber Schuhe ausziehen!“, zischelt er milde. Dabei sieht man einen kleinen Nasreddin Hodscha aus seinen Augen blitzen. „Aleikum Salam, Tach auch“, antworte ich leicht verstört und entledige mich meiner Stiefeletten.

Sarrazin führt mich ins komplett mit schweren persischen Teppichen ausgelegte Wohnzimmer. Bevor er sich auf einem orientalischen Sitzkissen, einem sogenannten Puff, niederlässt, zieht er seine geräumige Pumphose noch einmal bis unter die Achseln und schiebt seinen Turban zurecht. „Ein Teechen?“, fragt er freundlich. Ich nicke nur, und er winkt beiläufig in Richtung Küche.

„So, jetzt erst ma schön eine schmöckeln!“, brummt er, während er eine große Shisha anzündet. Als sie brennt, nimmt er einen tiefen, blubbernden Zug und streicht versonnen über seinen Schnurrbart. „Aumaziehn?“ – „Nee, danke.“ Sarrazin zuckt mit den Schultern. „Is aber lecker! Doppelapfel … Egal, kommen wir zur Sache.“

Während seine mit einem bodenlangen Hidschab bekleidete Frau den Tee serviert, greift Sarrazin hinter sich und holt ein dickes Manuskript aus einer abgewetzten Aktentasche und legt es vor sich auf den Teppich. „So, das ist … das ist die ganze Wahrheit!“ An seinen bekannten, zwanghaften Wortwiederholungen merkt man, dass er nun doch etwas nervös ist. „Es musste einfach raus. Eigentlich war ich ja auch … war ich ja auch froh, als mich Tarek Al-Wazir bei ‚Anne Will‘ geoutet hat! Gerüchte gab es ja schon lange, nicht nur wegen meines Namens und des Schnäuzers. Und der Tarek als Araber, der hat das gespürt. Außerdem bin ich ihm mal im Hammam begegnet. Ich hab übrigens so getan, als ob ich ihn nicht gesehen hätte …“ Kopfschüttelnd lacht er in sich hinein. Und dann holt er tief Luft und erzählt die ganze Geschichte.

Blumig beschreibt er, wie er damals, in den sechziger Jahren, nach Deutschland kam und wie er bald spürte, dass er „eine neue Legende“ brauchte, wie er sich ausdrückt. „Araber waren schon damals nicht so beliebt. Ich hab mir dann erst mal einen italienischen Akzent zugelegt und in Wolfsburg im VW-Werk malocht. Aber schnell hab ich gemerkt, dass man hier nur als richtiger Deutscher was werden kann.“

Tag und Nacht paukte er dann Grammatik und Aussprache, konstruierte die Geschichte vom Arztsohn aus Recklinghausen, fälschte Dokumente, trat in die SPD ein und erfand eine Ausbildung. „Ich hab behauptet, ich hätte Volkswirtschaft studiert.“ Er kichert. „Volkswirtschaft! Das kann keine Sau kontrollieren. Da kann man ja nix. Hätte ich gesagt, ich bin Arzt, hätte mir jemand einen entzündeten Blinddarm auf den Tisch gelegt und ein Skalpell in die Hand gedrückt. Sogar als Jurist muss man wenigstens ein paar Paragrafen kennen. Aber als Volkswirt? Da stört es noch nicht mal, dass ich diese schlimme Rechenschwäche hab.“ Er gießt noch mal Tee nach. „Nur das mit meinem Namen war ein Fehler. Aber irgendwas Arabisches brauchte ich dann wohl doch …“

Ob er denn keine Angst gehabt habe, dass die Geschichte auffliegt? „Klar, logo, täglich. Deswegen habe ich dann ja auch so aufgedreht. Und als mich Wowi dann in den Senat geholt hat, wusste ich, jetzt wird’s ernst. Jetzt nur keine Klientelpolitik machen. Also immer druff uff den Muselmann!“

„Und jetzt?“, frage ich. Sarrazin blättert in seinem Manuskript, das aussieht, als ob es mindestens 500 Seiten umfasst. „Jetzt ist Schluss mit den Lügen. Jetzt wird Tacheles geredet. Alles muss raus. Hier steht alles drin. Es sind nämlich gar nicht die Muslime, die Deutschland und den Westen in die Scheiße reiten. Ich hab neues Zahlenmaterial. Wussten Sie zum Beispiel, dass 99,9 Prozent der NPD-Mitglieder Deutsche sind?“

Ich antworte, dass das nicht wirklich überrascht, aber Sarrazin setzt nach: „Und das FBI hat herausgefunden, das 85 Prozent des Serienmörder Weiße sind, verstehen Sie? Weiße, europäischer Herkunft! Und was sagen Sie dazu: In Saudi-Arabien gibt es so gut wie keine Alkoholkranken und keine Männer, die an Vorhautverengung leiden!“ Sarrazin flüstert: „Das habe ich alles auf dieser Internetseite gefunden: Wikileaks. Das sind Geheiminformation!“

Ich wiege meinen Kopf und überlege, wie ich es ihm beibringe. „Sie meinen wahrscheinlich Wikipedia, das Online-Lexikon.“ Sarrazin macht eine abwertenden Handbewegung. „Das sind knallharte Zahlen. Die können Sie nicht vom Tisch wischen!“ Als ich ihn auf seine Rechenschwäche hinweise, wird er endgültig unwirsch. „Man kann sich die Realität doch nicht schönreden. Aber das werden sie auch noch kapieren, spätestens wenn in Deutschland alle Lederhosen und Lodenmäntel tragen. So und jetzt ist Zappo. Fatma? Bringst du unseren Gast mal raus!“ Schnell noch drückt mir Sarrazin das Manuskript in die Hand, und dreißig Sekunden später stehe ich vor der Tür. Es ist dunkel geworden. Und über Sarrazins Zwiebeldach-Villa geht der Halbmond auf. HARTMUT EL KURDI