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Archiv-Artikel

Theaterfragen sind Wurzelfragen

Bochum, sein Schauspielhaus und seine Geschichte. Versuch einer ersten Bestandsaufnahme anlässlich der „Kleist-Festwoche“ vor 70 Jahren

VON STEPHAN BOCK

„Dazwischen waren wir (mit Brecht und Koch) im Rathaus in Bochum und Duisburg, in Museen und Archiven.“

Kurt Weill, 1927

Das Schauspielhaus Bochum erlebt mit Beginn der neuen Spielzeit Einbrüche, die einem Absturz gleichkommen. Subventionierter Dilettantismus bis in die monatliche Disposition (eröffnet wird mit einem Zadek-Gastspiel und prompt spielt man sich selbst das Haus leer), der, es ist absehbar: die Existenz des Hauses bedroht. Eine Entwicklung, die schon im Ruhrgebiet keinen kalt lassen kann.

Bestandsaufnahme ist also angesagt. Keine des jetzigen Zustandes, denn dass dieser von „historischer Dimension“ ist, lässt sich mit einem einzigen Datum demonstrieren: dem 70. Jahrestag der „Kleist-Festwoche“, dem wohl fatalsten Ereignis der Bochumer Theaterhistorie. Doch statt sich dem zu stellen, wird es schlicht übergangen. Dass der 21. November 2006 der 195. Todestag Heinrich von Kleists und Henriette Vogels ist und damit deren 200. bereits in unmittelbarer Sichtweite, ist nicht einmal eine Lesung wert. Anspruch und Wirklichkeit dieses Hauses lassen sich denn auch nicht prägnanter als mit Kleist benennen: dem berühmtesten, legendärsten Seufzer deutscher Dramatik, der noch jede, die ihn spricht, mit „Wortstimmen“ (Edmond Jabès) schier überwältigen will. Ein Wörtchen, dass noch in jeder Inszenierung Hochspannung erzeugt, unten wie oben! Im Leitfaden Bochumer Dramaturgie heute liest sich das so: „Ein kleines ‚Ach‘ (bei Goethe) verzichtbar?“ Goethe, der Kleist-Förderer hoher Gnaden!

Bochumer Theatergeschichte

Es genügt erstes Sichten, um zu sehen: kein deutscher Theaterort weist solche Kontinuitäten auf wie Bochum, mithin derart ideale Bedingungen für ein Erinnern. Saladin Schmitts Intendanz ging von 1919 bis 1949, die Hans Schallas bis 1972. Ironisch gewendet: wo einem Schmitt ein Schalla und dem ein Zadek folgen konnte, und Zadek ein „Bochumer Ensemble“, ist da wirklich „von vornherein“ anzunehmen, Erinnern fördere das allerorten Gefürchtete zutage? Einzigartig folglich auch die Möglichkeiten einer genauen, datierbaren und schon von daher nutzbaren Kritik, lief die Grundlegung der „Bochumer Tradition“ mit Schmitt doch durch drei Perioden deutscher Geschichte, die noch uns nachhaltig beschäftigen: die Zeit bis zum 29. Januar 1933, die Nazi- und Kriegsjahre, die Spanne bis zur Ausrufung zweier deutscher Staaten.

Es macht folglich Staunen und entsprechend skeptisch, dass es trotz dieser nachgerade extraordinären Voraussetzungen diese Kritik nicht gibt. Wenn aber just dort die Schattenseiten ungenannt bleiben, wo sie nahezu gefahrlos benannt werden könnten, liegt die Vermutung auf der Hand, dass es doch etwas gibt, das „ungekannt“ bleiben soll. Weil gegenwartsgefährlich, da nicht in die nazistische Zeit, sondern die demokratische Gegenwart führend? Der Katalog der Ausstellung zu Saladin Schmitts 100. Geburtstag 1983, erstellt von Stadtarchiv und Schauspielhaus Bochum (Direktion Peymann), bestätigt die Vermutung. Kritische Momente sind, wenn überhaupt, nur angedeutet. Markige Bilder, und viel Schmunzel-Anekdotisches, das liest sich wie die Bewerbungspräsentation fürs Burgtheater. Im Blick auf Bochum, die Stadt, wächst der Verdacht, das Bedrohlichste überhaupt, das öffentlich werden könnte, sei das real existierende Desinteresse am eignen Theater. Ein Renommierhaus, doch mit Grenze! Das wäre kommunalpolitisch nichts Ungewöhnliches, ginge es nicht um Bochum und darum, dass ein Blickchen kritischen Blicks auf die „große Tradition“ gereicht hätte, und die jetzige Intendanz wäre der Stadt im wahrsten Sinne des Wortes erspart geblieben.

Kleist-Festwoche 15.-21. November 1936

An Saladin Schmitt zu erinnern, und nun konsequent an die Schattenseiten seiner Intendanz, ist schon wegen der Festwoche „Kleists Vermächtnis“ überfällig. Die Kleist-Woche galt als Höhepunkt und Triumph der Schmittschen Festwochen, stellte, so die einhellige Begeisterung, selbst Schmitts Shakespeare- und Schiller-Wochen weit in den Schatten. Der Erfolg war einschlagend, sie wurde unter dem Titel „Kleist-Festspiele für die deutsche Jugend“ zweimal wiederholt. Ein drittes Mal, die Gründe lagen im Technischen, gekürzt als „Der völkische Kleist“. Die Gymnasiasten wurden klassen-, die H.J. und BDM scharweis‘ ins Bochumer Theater verbracht, dem folgte 1937 die Woche „Dramatiker der H.J.“ War Schmitt bis zu seiner Kleist-Woche noch merklich abweisend zu den Nazis, war er nun, so ein Zeitzeuge, nachgerad selbst begeistert: die H.J.-Dramatiker bekamen große Regie und Besetzung.

Ganze Serien ließen sich über die Kleist-Festwoche schreiben. Da war der „Bochumer Stil“ (ein „Bayreuth und Salzburg des Wortes“ anstrebend), der die Nazis wie Motten (oder Schmeißfliegen) anzog. Da war Schmitts ganze intrigante Kunst: um auch diese Fest-Woche durchzusetzen, hatte er in Sachen Schirmherrschaft Amt Rosenberg und Reichstheaterkammer gegeneinander ausgespielt (Rosenberg siegte), dabei die Kleist-Gesellschaft mit ihrem (reichsbekannt antisemitischen) Vorsitzenden Prof. Dr. Georg Minde-Pouet als Puffer benutzend. Um dem die letzte Weihe zu geben, waren zwei alte Scharteken derer „v. Kl.“ geladen worden, die nun endlich bekunden konnten: welch „großer Deutscher“ der Dichter der Familie gewesen! Nicht also ein (erzkonservativer) Nachfahre wie Ewald von Kleist. (Hingerichtet im April 1945. Sein Sohn Ewald-Heinrich überlebte durch „Zufall“: Hitler hatte ihn mit dem Sohn des Panzergenerals und Feldmarschalls Ewald von Kleist verwechselt. Dass Kafka wie auch Stauffenberg am Grab Kleists und der Vogel gestanden, gehört: hierher.) Und dazu vor allem dies: dass nun nicht mehr zu übersehen war, dass Saladin Schmitt, um seinen „Bochumer Stil“ wahren zu können, genau die Skrupel nicht hatte, die gehabt zu haben ihm so gern und noch immer nachgesagt wird. Denn die Folge dieser Fest-Woche wie deren Wiederholung war, was noch heute die Kleist-Rezeption fermentiert, dass einem übel werden kann: Der Ruf, Heinrich von Kleist sei der „erste nationalsozialistische Dramatiker Deutschlands“ gewesen, ging von Bochum, der Kleist-Woche Saladin Schmitts aus. Denn Schmitt war kein Gründgens. Nicht, weil er kein Theatermann gewesen wär‘. Sondern genau deswegen! Mit einem „Stil“, der schon weit vor 1933 seine Kritiker gefunden hatte: der „Mischung der Meininger mit Reinhardt“.

Ganze Serien, wie gesagt. Doch hier soll, im Blick der 9. November 2007 (der Jahrgang 1989 wird dann volljährig), einzig dies herausgestellt werden: das Kleist-Bild für „die deutsche Jugend“ wurde so schulallgemein wie theatral konkret von Bochum aus „vermittelt“. Und damit auch „richtig gesehen“ wurde, gab‘s entsprechende Vorträge. Auch nazistische Lehrer waren Lehrer: ein Besuch im Bochumer Theater ersparte manche Unterrichtsvorbereitung. Eine Recherche und Dokumentation allein dieser Vorgänge wäre mithin aufschlussreicher als die entsprechenden Tonnen Sekundäres zusammengenommen.

Mutmacher Kleist

Was für eine Chance die Stadt Bochum 2006 schon für sich selbst vertan hat, lässt sich mit den Namen zweier „öffentlicher Institutionen“ benennen: Schauspielhaus Bochum und Kleist-Gymnasium. Schüler und Schülerinnen hätten in eine historische Spur gehen können, die sie selbst nachgerad direkt betrifft, und dazu hätten sie etwas Ungeheures und damit Mutmachendes erfahren können: einen Dichter namens Heinrich von Kleist, der in nichts, aber auch nichts den „Vorgaben“ (welchen auch immer) gleicht. Und sei‘s im Fluch „Bassa manelka!“ der berühmten Anekdote – was bis heute keinem Forscher, keiner Dramaturgin zu buchstabieren gelungen, könnte mittels Langenscheidt schon ein slawisch gebürtiges Migrantchen lesen: wie Kleist, das „Bassa malenka!“ seines Vorfahren vornamens Ewald umschreibend, ein „Fick die Kleine!“ zu einem – das ist der Dichter der Herrmannsschlacht! – Amulettfluch macht! Der einstige „Kindersoldat“ Kleist wusste, ein Kampf gegen die Napoleonischen Heere würde ohne Soldatinnen nicht möglich sein. Ein Dichter, und dazu mit deutscher Zunge, der mit einem Schutzfluch gegen die Vergewaltigung anschreibt – bered, dass darauf bis heute niemand stolz sein will. Denn: auch dies führte am 21. November 1811 in die Grube am Kleinen Wannsee. Mit kurzem Wort: Kleists „Bassa manelka!“ wäre das rechte Losungswort für eine Bochumer Neu-Intendanz, und die sollte endlich von einer Frau geführt werden. Ohne Wenn und Aber, das Maß dieser Dinge wird dann allein die theatrale Kunst sein.

Tour de Ruhr 1926 – 1946 – 2006

Und daher „Von hier aus“ ein Blick zurück, ins Jahr 1946 und ins Jahr 1926. 1946, man mag‘s nicht fassen, will Saladin Schmitt genau so weitermachen wie: vor 1933. Er kämpft mit allen Mitteln, und je länger er kämpft, desto grotesker wird‘s. Seine gerühmte Unbeirrbarkeit zeigt, was sie stets „auch“ gewesen war: ein gefährlicher, ja gefährdender Starrsinn, dem „letztlich jedes Mittel recht“. Um Gegenwärtigkeit zu demonstrieren, holt Schmitt einen „stark belasteten“ Schauspieler ins Ensemble und lässt ihn die Titelfigur in Carl Zuckmayers Des Teufels General spielen. Als Hans Schalla (von Gustaf Gründgens kommend) als Nachfolger feststeht, denunziert er ihn als „Kommunisten“. Er kennt sein „Bochumer Publikum“ – zu dessen Ängsten gehörte, Schalla könnte zu den Gewerkschaften und in die Betriebe gehen.

Auch hier knüpfte Schmitt skrupellos an seine 1920er Jahre an. „Theaterfragen im Ruhrgebiet sind Wurzelfragen, an denen die Kulturprobleme von ganz Deutschland aufgezeigt werden können“, hatte Herbert Jhering im November 1926 im Berliner Börsenkurier geschrieben, der Mentor zeitgemäßen Theaters und dezidierte Kritiker Berliner Theaterzustände. Es war nicht der einzige Artikel, mit dem Jhering das Ruhrgebiet als die Region für ein neues Theater propagierte. Dass er den „Bochumer Stil“ für überholt hielt, verschwieg er nicht.

Was Jhering für Berlin und Reich, war Erik Reger für das Ruhrgebiet und Westfalen. Seit 1927 freier Autor und Theaterkritiker (Kleist-Preis 1931 für den Roman Union der festen Hand), forderte er mit nicht nachlassender Hartnäckigkeit ein für die Region zeitgemäßes Theater. Als er im Juli 1928 das Programm des Bochumer Theater einer scharfen Kritik unterzieht, kommt es zum Eklat: Saladin Schmitt, hinter einer Säule lauernd, lässt ihn per Polizeioffizier aus dem Theater weisen. Reger ist kein Mann, der sich so etwas gefallen lässt, einige Tage später erscheint er aufs neue. Und erneut wird ein Polizeioffizier handgreiflich. Die Sache geht durch die überregionale Presse und bis vors Reichsgericht, doch Reger verliert.

Das wäre Lokalie, hätt‘ es nicht fast auf den Tag genau ein Jahr nach einem „Essener Skandal“ stattgefunden: als Völkische das Projekt REP Ruhrepos mit einem Hetzblatt gegen „die zwei Juden Brecht und Weil“ zu Fall brachten. In Essen Völkische, in Bochum Saladin Schmitt, die zeitgemäßes Theater verhindern – das sind alles andre als konstruierte Zusammenhänge: diese Skandale konnten nie zusammen gesehen werden, weil sie schon für sich allein nie untersucht worden waren.

Antipodisches Datum

Von heute aus betrachtet, erscheint 1926 als antipodisches Jahr aller Theater des Ruhrgebietes. Von dort aus den Scheinwerfer auf uns gerichtet (Brecht wird derart Fokus in der Courage zu 1938-1638-1938, als 300jährigen Krieg mathematisieren), ist nicht zu erkennen, welche Entwicklung das deutsche Theater nehmen, ob es den Spannungsbogen Berlin-Ruhrgebiet geben wird. Je näher dann die vergangnen Jahre, desto greller die Einheiten des 1926 noch Ungeschiednen. Darin geradzu schattenrissig: wie „Bochumer Stil“ eine eigene „Burg“ schafft, deren Schatten aber plötzlich im Wurf eines anderen kaum mehr zu erkennen ist. Von hier, von 2006 aus dann ein Erschrecken – wie das jetzige Bochumer Theater in Kostüm und Außenhaut den anderen zu gleichen scheint, im Wechsel-Fokus 2006-1926 aber einzig die dunklen Seiten „Bochumer Stils“ sichtbar werden. In der Sprache des Theaters gesagt: Zadek, Peymann, Hamlet-Malersaal und Johanna-BO-Fabrik – sind nicht einmal mehr im Schwarz-Licht zu erkennen.

Stephan Bock, geboren 1946 in Sachsen, ist freier Autor und lebt in Bochum. Er schreibt an einer Hommage á Kleist.