: Die Ehre der Spucke
Dass der Hamburger Wolf Biermann, der heute 70. Geburtstag feiert, vor exakt 30 Jahren zur historischen Figur werden konnte, macht fassungslos. Aber im zeitgeschichtlichen Kontext betrachtet kann dennoch ein Verstehen gelingen
VON BENNO SCHIRRMEISTER
Das alles ist so lange her. Beschlossen hatte das Politbüro der DDR die Ausbürgerung schon am 14., über die staatliche Nachrichtenagentur dann am 16. November verkünden lassen. Und fraglos hat sie den Hamburger Wolf Biermann, der zwischendrin seinen 40. Geburtstag feierte, zur historischen Figur gemacht. Genauer zu einem Haken, wie der Schauspieler Manfred Krug es einmal gesagt hat, und zwar dem, an dem sich die DDR schließlich aufgehängt habe.
30 Jahre liegt das zurück, alles wirklich lange her, vor allem gefühlt. Die einen haben diese Zeit noch nicht erlebt, andere haben sie verdrängt, die Restlichen sind gestorben. Das erschwert das Verständnis, denn dass damals ein kleiner, zur Fülligkeit neigender Schnauzbartträger gitarreschrammelnd und selbst gedrechselte Holperverse dazu singend einmal eine historische Figur hat werden können, macht einigermaßen fassungslos. Wie konnte das geschehen?
Der Sommer 1976 war sehr heiß gewesen, der schwedische König Carl Gustav hatte Silvia Sommerlath geheiratet und ABBA mit „Dancing Queen“, „Money, Money, Money“ und „Knowing Me, Knowing You“ gleich drei Smash-Hits hintereinander gehabt. Die Medizin forschte mit Hochdruck an Speichelersatzmitteln, weil die Strahlentherapie gegen Krebs zwar Erfolge, aber eben auch Nebenwirkungen vorweisen konnte. So auch die Xerostomie, was so viel bedeutet wie: Mundtrockenheit, gegen die man zwar Bonbons oder Kaugummis verabreichte, aber doch mit eher bescheidener Wirkung: Dagegen also die künstliche Spucke, als deren Vordenker Dr. J. Matzker in Ehren zu halten ist.
Generell ist Speichel ein eher diskreditierter Körpersaft, doch unbedeutend ist er nicht, und nicht nur für Mediziner ist es eine Herausforderung, in einer Zeit zu leben, der zunehmend die Spucke wegbleibt. Besonders sensibel dafür zeigt sich auch die Dichtung, und insbesondere jene, die vom lauten Vortrag lebt. So ist es zwar nicht schön, vor einer Bühne zu sitzen, die von Akteuren mit starkem Speichelausstoß bespielt wird, und auch diese selbst leiden darunter sehr. Aber ein unter akuter Xerostomie leidender Schauspieler oder Sänger ist weitaus schlimmer dran. Er ist komplett arbeitsunfähig. Hier aber ist das eigentliche dichterische Arbeits- und künstlerische Forschungsfeld des politischen Chansons, dessen Blütezeit nun einmal in die 70er Jahre fällt und dessen Kleinkunst- und Büchnerpreis gekrönter König Wolf Biermann heißt, dieser Dr. Matzker der deutschen Lyrik.
Vergleiche sind notwendig, um zu verstehen, aber sie sind tückisch, denn es gibt ja immer mitschwingende Bedeutungen, Konnotationen, die den Sinn entstellen könnten: Da will sich bloß wieder einmal jemand darüber lustig machen, dass man ohne Regen-Cape ein Biermann-Konzert nicht überstehen kann, wenigstens nicht in der ersten Reihe, haha, wie komisch. Aber nein, darum geht es nicht. Es geht darum, die Ehre der Spucke zu retten und die feuchte Aussprache der Deutschlehrer zu rehabilitieren, die, auf dem Pult sitzend und politisch-korrekt diese Verse ihren Eleven versucht haben näher zu bringen. Das sind keine persönlichen Defekte gewesen. Der leichte Nieselregen, der sich über alles legt, sobald Biermann-Texte, gleich ob Prosa oder Gereim laut vorgetragen wird, die leichte Dosis Schaum vor dem Mund, das Gefühl der Empörung, die Stipulation zum Protest – das ist der Sinn der ganzen Sache: Du, lass dich nicht austrocknen, in dieser trockenen Zeit.
So wie Biermanns Texte in jedem Schul-Lesebuch ist auch Dr. Matzkers Präparat längst in jedem Krankenhaus im Einsatz. Mehrfach ist die Rezeptur verbessert worden, und es dient nicht nur zur Strahlentherapie-Nachsorge, sondern wird nach fast jeder Operation und bei diversen zahnmedizinischen Behandlungen verabreicht. Kunstspucke gibt es als Spray, und als Gel. Alle aber wissen: Als Allheilmittel fungiert die Synthetik-Rotze nicht, vielmehr sind ihrem Einsatz sogar deutliche Grenzen gesetzt. Einmal kann sie die vielfältigen, insbesondere entzündungshemmenden Funktionen des natürlichen Speichels nicht übernehmen. Andererseits: Über einen langen Zeitraum hinweg ist ihre Anwendung – und der Mund will schließlich immer wieder befeuchtet sein – nicht zu empfehlen. Dann nämlich verursacht sie Übelkeit bis hin zur Emesis – sprich: das kalte Kotzen
Mit Biermanns Texten verhält es sich ganz ähnlich, und vielleicht liegt das gerade an ihrer Viskosität. So kann man ja mal schauen, was andere so gemacht haben, damals, und wird feststellen: Franz Josef Degenhardt zum Beispiel, der auch in Hamburg wirkt und webt, liest sich längst nicht so flüssig. Da werden böse Geschichten erzählt, da gibt es weniger Zischlaute, weniger Frikative und weniger r-s und l-s, also Liquida, da ist der Rhythmus mutwillig gestört, der bei Biermann alles zum Gluckern und zum Platschen bringt. Bei Degenhardt geht es um irgendwelche Botschaften, die unters Volk zu bringen sind. Bei Biermann geht es um das Gluckern und Platschen, das für sich genommen nicht viel bedeutet, vielleicht sogar gar nichts, und fast immer den Gegensinn pflegt. Der Zorn, den das auslösen kann, ist zwar enorm, auch wenn er schnell verraucht: Man wird seiner überdrüssig. Und wahrscheinlich wird er schnell vergessen und verdrängt. Aber rückgängig machen wird man ihn nicht können. Und dann ist’s passiert und die Geschichte ist geschrieben.