: Massenselbstmord und Hasspredigt
GROSSE OPER David Pountney hat an der Deutschen Oper Berlin „Die Trojaner“ von Héctor Berlioz inszeniert – in voller, fünfstündiger Länge. So kann man erleben, warum eine Aufführung eigentlich gar nicht möglich und trotzdem ungemein bereichernd ist
VON NIKLAUS HABLÜTZEL
Es gehört noch immer Mut dazu, das letzte Werk von Héctor Berlioz ungekürzt auf die Bühne zu bringen. Es dauert dann etwa fünf Stunden, verlangt 20 Solisten, einen Chor, der gar nicht groß genug sein kann, und ein Orchester, das zwar keine Ouvertüre spielen darf, stattdessen aber eine rasend schnelle Figur für Holz- und Blechbläser, die aus dem Nichts heraus aufblitzen und wie eine Sternschnuppe verglühen muss. Auch der beste Dirigent kann da nur beten, wenn er dafür Zeit hätte. Denn sofort legt jetzt der Riesenchor los mit seinem Loblied auf den Frieden. Das Tempo ist immer noch sehr schnell und das Orchester zündet ein ganzes Feuerwerk an Farben. Aber es jubelt nicht mit, lauter glühende Pfeile sind zu hören, die sich tödlich in das Herz der fröhlich singenden Menschen bohren.
Denn vergiftet ist dieser Frieden, und der Regisseur David Pountney lässt lauter Krieger über ein verwüstetes Schlachtfeld trampeln. Sie singen begeistert von der „reinen Luft der Felder“, aber es gibt keine Felder. Wir befinden uns auf der Ebene vor Troja, die Griechen haben ihr Lager verbrannt, sind in See gestochen und haben nur dieses Holzpferd am Strand zurückgelassen, das wir jetzt noch nicht sehen, aber bald, wenn auch nur in Teilen, weil es jeden Bühnenrahmen sprengt. Zwei Hufe und ein Kopf werden in das Bild ragen, realistische, aus dem Anatomiebuch geformte Meisterstücke der Ausstattungswerkstatt.
Es bliebt bei diesem hohen Niveau des Theaterhandwerks. Donnald Runnicles, der Generalmusikdirektor, hat das Orchester gut aus der Schlamperei vergangener Spielzeiten herausgeholt, und der Chor der Deutschen Oper darf zeigen, was er wirklich kann. So ist es endlich möglich, dieses Werk, das eine Legende der Musikgeschichte ist, angemessen realisiert zu hören, zu studieren und zu bewundern. Danach allerdings versteht man auch, warum es so selten aufgeführt wird. Nur der zweite Teil, in dem es um die Liebesgeschichte von Dido und Äneas geht, ist zu Berlioz' Lebzeiten 1863 uraufgeführt worden, eine ungekürzte Fassung gab es erst 1969 in Glasgow zu sehen. Pountney war schon damals fasziniert davon, sagt er, und darf daher als Kenner des Problems gelten: Dieses Stück Musik ist überfüllt mit Edelsteinen der Tonkunst, aber es fehlt ihm jede innere Einheit, weil ihm Personen mit Seele und dramatischer Fallhöhe fehlen.
Das auffälligste Symptom dafür sind die zwei Schauplätze Troja und Karthago. Äneas, der dumme Krieger, kommt in beiden vor, beherrscht aber werden sie jeweils von zwei Frauen, die gegensätzlicher nicht sein könnten. In Troja muss die Seherin Kassandra, herrlich gesungen von Petra Lang, ohnmächtig die Blindheit ihres Volkes beklagen, und ruft, als es zu spät ist, die Frauen der Stadt zum kollektiven Selbstmord auf. Für Karthago dagegen hat Berlioz eine ganze Suite lyrischer Ballettmusiken und Liednummern geschrieben, die alle das glückliche Leben unter der guten Königin Dido beschreiben. Das matriarchale Idyll wird erst zerstört durch die Affäre mit Äneas, der sich alsbald aus dem Staube macht, um seinen Heldentod zu sterben, aus dem Rom, das neue, noch größere Troja hervorgehen wird.
Nichts passt zusammen, denn Berlioz hat Vergils Vorlage, die „Änäis“, nur geplündert, um gute Texte für Szenen zu gewinnen, die alle ein seltsam disparates, ausschließlich musikalisches Eigenleben führen. Sie sind zauberhaft instrumentiert und überraschen mit originellen Melodien, bleiben aber folgenlos für das Ganze und splittern es auf in Episoden einer endlosen Erzählung, die nur zufällig und gewaltsam abbricht mit einem wüsten Rachegesang der verlassenen Dido, die den kommenden Römern ewige Todfeindschaft schwört. Natürlich stimmt der Chor mit ein, diesmal ohne jeden Widerspruch aus dem Orchester, und so freudestrahlend, dass man die Polizei holen möchte.
Falsche Friedenssehnsucht am Anfang, eine grundgesetzwidrige Hasspredigt am Ende, dazwischen eine Liebesgeschichte, die Pountney hemmungslos in den reinsten Kitsch verpackt, wenn er das Paar in glitzernden Turnrädern vor hellblauem Himmel mit weißen Sternen schweben lässt: Die Frage, ob so etwas gut oder schlecht sei, ist falsch gestellt. Es ist große Oper, anstößig, skandalös und quer zu jeder Zeit und ihrem Geschmack. Nur die Dido hätte besser gesungen werden müssen, als das Béatrice Uria-Monzon mit ihrer wackligen Stimme kann. Immerhin darf sie als Einzige eine Art privates Innenleben haben. Aber es geht auch ohne und vielleicht sogar besser, wenn Berlioz recht hat.