BARBARA DRIBBUSCH über GERÜCHTE
: Im Schwitzkasten von Suhrkamp

Darf man Habermas wegwerfen, um Platz für eine Heimsauna zu schaffen? Ja – aber nicht alle Werke

Eigentlich muss ich mich ja nicht rechtfertigen, aber ich sag’s trotzdem mal: Das mit der Heimsauna war nicht meine Idee.

„Schon gekauft“, hatte Christoph eines Abends erklärt, „die Kinder hatten gesagt, du fändest das auch gut. Wir haben die Kleinste im Bauhaus genommen. Und 1 Meter 40 mal 2 Meter passt bei uns ins Untergeschoss. Wir müssen nur ein bisschen ausräumen.“

Am vergangenen Samstag ist es so weit. Vor uns stehen drei große Umzugskartons, hinter uns zwei vollgestellte Ikea-Bücherregale. Wir haben einfach keinen Platz mehr übrig in unserem Reihenhaus. „Keine Reliquien aufbewahren“, mahnt Christoph. Der Autor Paulo Coelho behauptete kürzlich, die Wahrscheinlichkeit, ein bereits gelesenes Buch noch einmal zur Hand zu nehmen, liege bei höchstens einem Prozent. Aber ich löse mich immer schwer.

Christoph wirft „Technik und Herrschaft“ von Otto Ullrich, erschienen so Ende der 70er-Jahre, in die Verschenke- und Wegwerfkiste. Dort lagern schon blaue, grüne und rote Suhrkamp-Bändchen. Gedankenwerke, die von der„Struktur des Sozialen“, „Herrschaft und Arbeit“ und der „Ökonomie der Macht“ künden. Hat mir das Theoretische eigentlich schon jemals in meinem Leben aus Krisen herausgeholfen?, schießt es mir plötzlich durch den Kopf.

Christoph versenkt die „Erläuterungen zur Diskursethik“ von Jürgen Habermas in den Wegwerfkarton und wirft Sigmund Freuds „Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie“ hinterher. „Nicht Habermas und Freud!“, rufe ich. „Davon haben wir doch noch genügend Bände“, sagt Christoph ungerührt und legt dann Habermas’ „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ gnädigerweise in den Behaltekarton.

Ich gebe mir einen Ruck. Man muss ja loslassen können. „Technik und Wissenschaft als Ideologie“ lasse ich in den Wegwerfkarton gleiten, desgleichen die „Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse“. In der „Charakteranalyse“ von Wilhelm Reich sehe ich vorher nach, ob mir nicht irgendwer damals eine persönliche Widmung auf die erste Seite geschrieben hat. Denn Reich gehörte in den 70er-Jahren zu den Büchern, die einem gern von Jungs geschenkt wurden, die dann von der Freiheit des Sexuellen schwärmten. Nach Reich verabschiede ich mich von Marx – ja, ich gebe zu: Es war das dicke „Kapital“. Doch bei „Überwachen und Strafen“ von Michel Foucault halte ich inne – das Buch wird im Behaltekarton gesichert. Christoph ist inzwischen bei den schmalen Merve-Bändchen angelangt, den postmodernen Franzosen von Jean Baudrillard bis Jean-Francois Lyotard. Ich protestiere: „Nicht die ‚Agonie des Realen‘!“ Denn wo stehen so geniale Sätze wie „Das Reale ist die genetische Verkleinerung des Imaginären.“? Mit dieser Baudrillard’schen Behauptung erregte ich bei meinem Prof eine gewisse Aufmerksamkeit. Zudem werden die dünnen Bändchen im Behaltekarton nicht allzu viel Platz beanspruchen.

Nach einer Stunde wird mir unser Schema bewusst: Vor allem die abstrakten Titel sind in den Wegwerf- und Verschenkkisten verschwunden. Im Behaltekarton lagern hingegen Titel, in denen es zumindest vorgeblich um Gefühle geht, etwa „Liebe als Passion“ von Niklas Luhmann oder „Die Masken des Begehrens“ von Philippe Aries. In den Behaltekarton konnten sich zudem erstaunlich viele praktische Bücher aus meiner Freizeitabteilung retten, die über „Sicher freiklettern“, „Überlebenstechniken in freier Natur“ und „Eine kleine Wolkenkunde“ informieren. Abstrakte Bücher haben mir in schlechten Zeiten nie geholfen. Der Sport und die Natur schon.

„Was, du hast Habermas und Marx weggeschmissen?“, fragt mich entsetzt Kollegin F. am Montag im Büro. Ich fühle mich sofort schuldig. Ich rufe die Amazon-Website auf, nur mal so. „Das Kapital“ gibt es dort gebraucht. Schon ab 4,89 Euro, mit „einigen ganz wenigen Unterstreichungen mit dünnem Bleistift“, informiert der Verkäufer.

Die Heimsauna wird nach einem Winter ja vielleicht gar nicht mehr genutzt. Dann kann man dort Bücher lagern. Es ist zumindest eine Option.

Fragen zu Baudrillard? kolumne@taz.de Morgen: Martin Unfried über ÖKOSEX