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Archiv-Artikel

Belgien: Letzte Ausfahrt Konföderation?

WAHL Die flämischen Nationalisten beschleunigen die Desintegration des Landes

Unverdauter Strukturwandel und Abhängigkeit von flämischen Transferzahlungen

AUS AMSTERDAM TOBIAS MÜLLER

Ganz Flandern steht im Zeichen des V. Überall in der nördlichen Landeshälfte Belgiens springen sie einem von den Wahlplakaten entgegen, die gespreizten Zeige- und Mittelfinger der N-VA Kandidaten, der Nieuw- Vlaamse Alliantie. Grund dazu haben die flämischen Nationalisten: Sämtliche Umfragen vor den Parlamentswahlen am 25. Mai sagen ihnen einen Erdrutschsieg voraus, deutlicher noch als 2010. 33 Prozent der flämischen Stimmen – in Belgien gehen niederländisch- und französischsprachige Bürger getrennt zur Wahl – könnten sie gewinnen.

Eigentlich ist das Victory-Zeichen nur ein Nebeneffekt. Denn im Grunde steht das V für „Vlaanderen“ und das Wahlprogramm der N-VA namens „Plan V“ – was sich auf niederländisch mit „Plan B“ reimt. Die anvisierte flämische Alternative, so der Vorsitzende Bart De Wever in Brügge, besteht aus zwei Schritten: „Wir wollen dieses Land sozioökonomisch gesund machen und durch den Konföderalismus diese Gesundung sichern.“ Treffender lässt sich das Programm der Partei, die erst 2001 aus den Überbleibseln der flämisch-nationalistischen Volksunie entstand, nicht beschreiben: Man will Lohnkosten und Sozialausgaben senken, einen straffen Haushalt, und dann ist da das K- Wort: Konföderalismus. Die belgischen Regionen, Wallonien, Flandern und Brüssel, sollen zu autonomen Landesteilen umgeformt werden, nur minimal durch eine gemeinsame Regierung verbunden: der letzte Schritt eines Regionalisierungsprozesses, der den einstigen Zentralstaat systematisch ausgehöhlt hat.

„Evolution statt Revolution“, heißt das im Jargon der N-VA – ganz so, als hätten flämische Parteien diese Entwicklung nicht jahrzehntelang forciert. Eher ließen sie sich schlicht nicht unter einen Hut bringen: das nationalistische Flandern mit konservativ-marktliberalem Mainstream und die Wallonie, wo man traditionell rot wählt und eine linke politische Kultur pflegt. Dazu kommen die wirtschaftlichen Gegensätze: hier Wohlstand und geringe Arbeitslosigkeit, dort unverdauter Strukturwandel und Abhängigkeit von flämischen Transferzahlungen.

Im französischsprachigen Süden steht die Parti Socialiste vor einem erneuten Sieg. Doch verglichen mit 2010 werden deutliche Verluste erwartet. An der Basis gibt es großen Unwillen über die Sparpolitik der aktuellen Regierung, einer großen Koalition aus Sozial- und Christdemokraten sowie Liberalen unter dem PS-Ministerpräsidenten Elio Di Rupo. Nutznießer ist die linke Parti du Travail du Belgique (PTB), die Prognosen zufolge am Ende bei rund 10 Prozent der Stimmen landen dürfte.

Bei dieser Konstellation liegt auf der Hand, dass der neuen belgischen Regierung eine schwere Geburt bevorsteht. N-VA- Spitzenkandidat De Wever fordert deshalb, zuerst auf flämischer Ebene eine Koalition zu finden, die dann mit den Frankophonen verhandeln sollte. Hintergrund dieses Vorschlags ist der belgische Super- Wahltag: Am 25. Mai werden hier neben europäischem und föderalem auch die Regionalparlamente gewählt.

Vielleicht aber, und auch diese Option macht im Duktus der flämischen Nationalisten Sinn, laufen die Verhandlungen gegen die Mauer. Dann müsste es wieder eine große Koalition gegen die Wahlsiegerin N-VA geben. Oder aber die Stimmung im Süden dreht sich, aus Frust, das erwartete linke Wahlergebnis in der föderalen Regierung nicht repräsentiert zu sehen. Dann könnten die Wallonen selbst auf die Idee kommen, dass die letzte Ausfahrt aus der politischen Sackgasse Konföderation heißt.