: Jugendliche fordern „zweite Chance“
In Nürnberg kürten junge MigrantInnen den „Abschiebeminister 2006“: Bayerns Günther Beckstein landete an der Spitze. Berlins Innensenator Erhart Körting wohnt der Verleihung persönlich bei, und erntet in manchen Fragen durchaus auch Applaus
AUS NÜRNBERG MAX HÄGLER
Es ist ein perfekter Coup. Gerade in dem Augenblick, als die Jugendlichen bei der Kandidatenvorstellung zur Kür des „Abschiebeministers 2006“ beim Berliner Innensenator Erhart Körting (SPD) angekommen sind, öffnet sich die Tür. Schnellen Schrittes kommt jemand in den Versammlungsraum der Nürnberger Jugendherberge, mit dem niemand gerechnet hatte: Der Berliner Innensenator Erhardt Körting.
Rund hundert Jugendliche aus der ganzen Republik sitzen an diesem späten Mittwochabend auf Einladung der NGO „Jugend ohne Grenzen“ zusammen, um den Protest für die nächsten beiden Tage vorzubereiten: Bis Freitag tagt in der Frankenmetropole die Innenministerkonferenz der Länder (IMK), um auch über das Bleiberecht zu sprechen. Ein Thema, das beinahe alle jungen Leute direkt betrifft, die an diesem Abend den Abschiebeminister küren.
Ein paar besitzen einen deutschen Pass, aber die meisten haben nur ein Passersatzpapier in der Tasche, so wie Khals Assad Hamad. Er ist Kurde, 28 Jahre alt und vor vier Jahren aus dem Irak nach Deutschland geflohen, inzwischen lebt er in der Nähe von Karlsruhe. Als Khals ansetzt, um den Grund seiner Flucht zu erzählen, bricht er mit Tränen in den Augen zusammen, legt den Kopf auf den Tisch. Würde er zu viel verraten, käme vielleicht seine Familie in Gefahr, sagt er. Am 6. Dezember läuft seine Duldung aus, dann wird er wieder aufs Amt gehen, wieder einmal fragen, ob man seine Erlaubnis um drei Monate verlängert. Dabei würde er gerne länger hier bleiben in Deutschland. „Es gibt so viele nette Leute hier, es gibt Bitte und Danke, das kannte ich vorher nicht.“
Auch Erhardt Körting bekommt Dank und Applaus für sein Kommen und Diskutieren von der bunten Runde, die an ein paar zusammengeschobenen Tischen tagt; an der Wand wild durcheinandergewürfelt Papierstapel, Taschen, Flipcharts und Pappkameraden mit den Gesichtern der 16 Innenminister, ganz so wie bei einem Treffen der Schülermitverwaltung.
In die dritte Reihe hat sich der Innensenator gesetzt, da wo noch ein Stuhl frei war. Seine Begleiter, Stabschef und Personenschützer, nehmen weiter hinten Platz. Ernst nickt er, als ihm die freche 19-jährige Berlinerin Nazliye Oclay von der Bühne entgegenpfeffert: „Sie verdienen den Preis.“ Immerhin, da ist sich die Moderatorenrunde einig, könne Körting aber im Ländervergleich wohl Bayerns Ressortchef Beckstein nicht überbieten. Auch dessen „Untaten“ wurden vorher präsentiert, genau wie die von den übrigen 14 Innenministern. Am Ende wird der Bayer gewinnen, gefeiert mit zynischen „Beckstein“-Sprechchören. Auf Platz zwei kam Senator Udo Nagel aus Hamburg, Platz drei belegte Thüringens Innenminister Karl Heinz Gasser.
Während die in Cowboyhüten versenkten Loszettel noch ausgezählt werden, kommt der Innensenator – in Nadelstreifen gewandet – mit schwungvollem Schritt auf die Bühne. „Ich wurde eingeladen, hatte Zeit und wollte nicht feige sein“, sagt er. „Ich glaube nicht, dass wir alle Facetten der Ausländergesetzgebung hier diskutieren können und wir wären auch nicht alle einer Meinung.“ In ein paar kurzen Sätzen wiederholt er immerhin die Rahmenregelung, die tags zuvor auf Bundesebene getroffen wurde, und ganz offen spricht er an, wer nicht unter die neue Regelung fällt, wer wohl bald abgeschoben wird: „Diejenigen, die gefälschte Papiere haben.“
Die Familie von Moderatorin Nazliye ist so ein Problemfall. Vor 17 Jahren sind ihre Eltern aus der Türkei zum Arbeiten nach Deutschland gekommen, haben einen Asylantrag gestellt. Als es nicht klappte, haben sie ein bisschen geschummelt. „In der Moschee bekam mein Vater den Tipp, zu sagen, er sei libanesischer Kurde“, erzählt Nazliye. Vier Jahre lang ging das gut, bis ein Landsmann petzte. Jetzt sind Mutter, Vater und ihre fünf Geschwister von der Abschiebung bedroht, nur sie selbst konnte bei der Härtefallkommission punkten. „Die denken, dass es vorteilhaft ist, wenn eine dreisprachige Frau im Gesundheitswesen arbeitet“, meint die Arzthelferin. In ihrer Familie wisse niemand den Kampf für ein Bleiberecht zu schätzen, trotzdem macht Nazliye weiter. „Ich tu’ es für meine beiden kleinen Geschwister.“
Und was hält sie von Körting, dessen Innenpolitik sie gerade angeprangert hat und der jetzt vor den Jugendlichen steht und sagt: „Ich habe Respekt vor Ihrer Arbeit, auch wenn ich nicht überall einer Meinung bin.“? – „Na ja, er hat es nicht einfach.“ Gerade bei der Abschiebung von Menschen, die Fehler gemacht haben, könne sie ihn „ganz gut“ verstehen: „Ich belohne ja meine Geschwister auch nicht, wenn sie etwas Falsches gemacht haben – andererseits: Menschen haben auch eine zweite Chance verdient.“