Jagdszenen aus Nairobi

„Wir brauchen das Papier. Sonst geht die Geschichte den Bach runter“, sagt NajokiNoch 20 Minuten bis zur Sitzung, auf der die Klimadiplomaten ihr Urteil fällen

aus Nairobi Nick Reimer

„Hast du die Dokumente?“ – Gabriela von Goerne schaut bedröppelt. Nein, hat sie nicht. „Die Dokumente sollten doch schon seit 12 Uhr online sein!“, raunzt Lester, ein schwarzhaariger Rastakopf aus Südafrika. Gabriela, eine burschikose, drahtige Frau Mitte vierzig und sonst eigentlich nicht auf den Mund gefallen, verteidigt sich kleinlaut: „Sie sind nicht online. Und am Dokumenten-Counter bin ich auch schon dreimal gewesen.“ Najoki aus Japan stellt trocken fest: „Wir brauchen das Papier. Sonst geht die Geschichte den Bach runter.“

Weltklimakonferenz in Nairobi, Mittwoch kurz nach eins. Diese Geschichte handelt nicht von Klimadiplomaten, nicht von Ministern. Diese Geschichte handelt nicht von den „Ringos“, wie die „Research and independent organisations“, also die unabhängigen Wissenschaftler, im Konferenzsprech heißen. Oder um die „Bingos“, die „Business and industry organisations“, also der Wirtschaftslobby. Diese Geschichte handelt von den „Engos“ – den Environmental Groups, den Klimaschützern. Und von der Jagd nach einem Dokument.

Am 4. Verhandlungstag musste sich das Plenum der 2.000 Delegierten das erste Mal mit dem Thema „CCS“ beschäftigen. CCS steht für „Carbon Dioxine Capture and Storage“ und ist vom Prinzip her vergleichbar mit einem Atommüllendlager: Der Klimakiller Kohlendioxid soll aufgefangen, verflüssigt und – ähnlich wie radioaktive Brennstäbe – unterirdisch gelagert werden. Eine gute Sache, sagten die einen, schließlich gewinnen wir so Zeit für die Energiewende. Kreuzgefährlich, sagten die anderen – denn man verlagere das Problem nur in die Zukunft. Nach so viel Gegensätzen im Plenum überwies die Konferenzleitung das Thema in eine Arbeitsgruppe.

„Das ist mein Thema“, sagt Gabriela von Goerne. Die Geologin hat Mitte der 90er-Jahre über „fluide Wechselwirkung im Gestein“ promoviert. Sie verfolgte die Frage, ob eingelagerte Gase mit den Speicherwänden reagieren. Danach erforschte sie jahrelang am Geoforschungszentrum Potsdam, wie Gestein beschaffen sein muss, um Kohlendioxid zu bergen. Im Jahr 2002 war damit Schluss: „Ich hab vor Wut gekündigt.“ Das Geoforschungszentrum hatte Förderung für einen Versuch im brandenburgischen Erdgasspeicher Ketzin beantragt. „Gegen meinen Rat: Der Speicher ist löchrig wie ein Käse.“ Sie erzählt, dass zu DDR-Zeiten das Dorf Knobloch über dem Speicher habe evakuiert werden müssen, weil sich das gespeicherte Erdgas durchs Deckengebirge gefressen hatte und Menschen vergiftete. Kurz nach ihrer Kündigung entdeckte Gabriela von Goerne eine Stellenanzeige von Greenpeace. Seitdem fährt sie für die Umweltschutzorganisation als Klimaexpertin zu den Klimakonferenzen.

Diesmal ist das besonders wichtig: Halb fünf will die Arbeitsgruppe CCS ihren Beschluss zur Kohlendioxid-Speicherung verfassen. Die Arbeitsgrundlage – „das Dokument“ – sollte eigentlich seit 12 Uhr öffentlich und online sein. Jetzt ist es zwei, und die Engos haben das Dokument noch immer nicht. Direkt vor dem Plenarsaal treffen sie sich zu einer kurzen Strategieberatung: Alles Spezialisten auf dem Gebiet, alle von unterschiedlichen Organisationen. Najoki arbeitet für den WWF, Lester für das Forum Southsouthnorth.

„Wir könnten uns an die Laptops hängen und mal sehen, ob das Papier über interne Kanäle anzuzapfen ist“, schlägt Lester vor. Donald aus den Niederlanden hält davon überhaupt nichts: „Das ist doch nicht seriös.“ Die meisten Engos stimmen ihm zu: Seriösität ist oberste Pflicht. Die Zeit bis zur Beschlusssitzung wollen die Experten nutzen, um den Delegierten die Augen zu öffnen. Um sie darauf hinzuweisen, was sie eigentlich beschließen werden. „Das kannst du glaubhaft nur, wenn du legal an das Vorlagedokument kommst“, argumentiert Donald. „Jedenfalls bleibt nur noch wenig Zeit bis zum Treffen mit der EU“, sagt Najoki. „Ich kann ja noch mal losgehen“, bietet Gabriela an. Lester begleitet sie.

Tatsächlich gibt es erste Versuchsprojekte zur Verflüssigung und Einlagerung von CO2. Vattenfall baut in der Lausitz ein Versuchskraftwerk. Norwegen ist mit der technologischen Entwicklung schon sehr weit, US-Präsident Bush stellte im Mai eine Milliarde Dollar für die Forschung zur Verfügung. Logisch, dass die Industrieländer das Thema hier in Nairobi auf die Tagesordnung setzen: Kohle ist noch 200 Jahre vorrätig, allein China plant 250 neue Kohlekraftwerke – eine Horrorvorstellung für die Erderwärmung. Allerdings: Ähnlich wie beim Atommüll-Endlager weiß noch niemand genau, wie sich Kohlendioxid unter Tage verhält. Was tun, um Ausbrüche zu vermeiden? Was ist mit Tektonik, mit Erdbeben?

Mit solchen Fragen beschäftigt sich die Arbeitsgruppe CCS sechs Tage lang. Hinter verschlossenen Türen – auch für die Bingos, Rengos und Engos. Bevor die kommen, „wollen wir einen eigenen Sachstand bilden“, erklärt eine Expertin der EU-Delegation, die mit in der Arbeitsgruppe sitzt. Dieser Sachstand wird dann in einem Dokument formuliert. Und eben das Papier suchen die Engos um Gabriela von Goerne. Es ist nicht viel Zeit. Es soll schon in drei Stunden, um halb fünf, nach Konsultation der Delegationen beschlossen werden. Jetzt ist es halb drei. Gabriela hat das Dokument noch immer nicht. Lester sagt kämpferisch: „Wir schaffen das auch ohne Papier. Dann müssen wir eben bluffen.“

Kurz vor drei treffen die EU-Vertreter auf der Terrasse der Cafeteria ein: Eine Schwedin, zwei Briten, der eine vom dortigen Wirtschaftsministerium. Blaugraue Anzüge auf der EU-Seite, Blusen und Hemden auf der der Engos. Ob wegen der brennenden Sonne oder als alter Diplomatentrick – die drei EU-Experten entledigen sich ihrer Jacketts. Sofort löst sich die Atmosphäre.

„Stimmt es, dass die EU plant, die unterirdische Kohlendioxid-Verpressung ins Portfolio des CDM aufzunehmen“, will die Australierin Kristin wissen, die inzwischen zu der Gruppe hinzugestoßen ist. Clean Development Mechanism – abgekürzt CDM – bedeutet „Saubere Energie-Entwicklungszusammenarbeit“. Baut beispielsweise Enercon einen Windpark in Südafrika, bekommt es dafür CO2-Aktien, die so genannten Zertifikate, die an der Energiebörse bares Geld wert sind. CDM ist das bislang einzige funktionierende Instrument des Kiotoprotokolls. „Tatsache ist, dass es ein großes Interesse des Südens an der Verpressung von Kohlendioxid gibt“, antwortet die EU-Expertin aus Schweden. Ziemlich bald wird klar, dass sie in der Runde das Sagen hat: „Sollten Sie etwas anderes gehört haben, müssten Sie sich noch einmal informieren.“

Lester stöhnt auf: „Wissen Sie, was das für ein Signal zum Beispiel an mein Heimatland ist? Wird die Verpressung Teil des CDM-Systems, bekommen wir statt Windparks neue Kohlekraftwerke. Das können Sie doch nicht wollen!“

Die Schwedin antwortet: „Tatsache ist, dass Kohle der am längsten vorrätige Rohstoff ist. Also muss man auch die Verpressung ins Kalkül ziehen.“ „Aber doch nicht als CDM! Die Industrie will doch damit nur ihren Hintern retten.“ Selbst die Engos am Tisch sind von Lesters Impulsivität überrascht: Man muss doch diplomatisch bleiben – zumal gegenüber Diplomaten! Aber nun werden statt Argumenten Überzeugungen in der Cafeteria ausgetauscht.

Plötzlich fragt die Schwedin: „Was fordern Sie denn?“ Die Engos tragen zusammen: Mehr Geld für Forschung. Mehr Forschungsergebnisse. Klarere Rechtsrahmen. Mehr Zeit, bevor man Beschlüsse fasst. Außerdem dürfe die Verpressung von Kohlendioxid nicht mit Klimazertifikaten belohnt werden. Die EU-Diplomaten schreiben eifrig mit. „Seien Sie sicher, dass Ihre Anregungen Berücksichtigung finden“, sagt die Schwedin dann. Shakehands, leichter Diener, die Jacketts sind wieder angezogen, die EU-Diplomaten wieder im Dienst.

Es ist jetzt zehn nach vier, bleiben noch zwanzig Minuten, bis die Klimadiplomaten auf der entscheidenden Gruppensitzung ein Urteil fällen. „Hoffentlich waren die anderen erfolgreicher“, sagt Lester und berichtet von anderen Engos, die sich mit anderen Staatenvertretern getroffen haben – etwa die der in der G 77 zusammengeschlossenen Entwicklungsländer. Die Allianz der kleinen Staaten. Aber die Engos wissen: Auch die Bingos und die Rengos hatten Meetings.

„Wir haben immerhin einen Glaubwürdigkeitsvorteil“, sagt von Goerne. Den Engos würde niemand auf der Konferenz wirtschaftliche Interessen unterstellen, auch nicht die Jagd nach Forschungsmitteln. „Unsere Glaubwürdigkeit machen sich manche Delegationen sogar zu Nutze“, erzählt sie. Es käme immer wieder vor, dass etwa die EU Engos bitte, doch mal bei einer afrikanischen, einer lateinamerikanischen Delegation vorzufühlen, wie bestimmte Vorschläge ankommen. „Käme die EU selbst, würden diese Staaten sofort misstrauisch. Sie sind einfach schon sehr oft über den Tisch gezogen worden. Aber wir finden Gehör“, sagt die Greenpeace-Expertin.

Dafür bleibt noch eine viertel Stunde Zeit. Gabriela von Goerne postiert sich vor dem Ausschusssaal. Vielleicht kann sie ja dem einen oder anderen Abgeordneten noch ein kurzes Hintergrundpapier zustecken, ihn aufmuntern, oder warnen.

Aber es kommt kein Abgeordneter. Es kommt überhaupt niemand. Außer Lester. Und der strahlt übers ganze Gesicht: „Die Sitzung ist abgesetzt!“, ruft er triumphierend. „Sie konnten sich nicht einigen!“ Man kann richtig sehen, wie die ganze Anspannung Gabrielas Körper entweicht. „Das ist zwar noch nicht gewonnen. Zeigt aber immerhin, dass etliche Delegierte unsere Bedenken teilen“, sagt Lester.

„Wie viele sind ‚etliche‘?“, fragt Gabriela.

„Das werden wir morgen sehen. Es bleibt noch ein Tag Zeit.“