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Archiv-Artikel

Chance, nicht Strafe

TANZABEND Das Publikum feierte Sidi Larbi Cherkaouis und Damien Jalets „Babel“ im Haus der Berliner Festspiele mit Standing Ovations

Wo jeder seinen Fuß hinter den des Nebenmannes hakelt, kann man nur gemeinsam vorwärtsgehen

VON ANNE PETER

Was wäre, schlüge man Gott ein Schnippchen? Begriffe die Sprachenverwirrung nicht als Strafe fürs Allzu-hoch-Hinauswollen, sondern als Chance? Und baute an jenem Turm weiter? Mit vereinten Kräften, sich ergänzenden Talenten.

Der Traum vom Turm – im furiosen Tanzabend „Babel [words]“ von Sidi Larbi Cherkaoui und Damien Jalet ist er noch nicht ausgeträumt. Hier wirkt die Vielfalt statt bedrohlich bereichernd. Der 1976 in Antwerpen geborene Cherkaoui mit belgisch-marokkanischen Wurzeln übte seine ersten Tanzschritte nach den Vorbildern „Fame“ und Michael Jackson und wurde noch während der Ausbildung bei P.A.R.T.S. von Alain Platel engagiert. Mittlerweile ist er einer der gefragtesten Choreografen. Sein „Sutra“-Abend mit Shaolin-Mönchen reiste um den Globus und gastierte auch, ebenso wie jetzt „Babel“, beim Berliner Hochglanz-Festival Spielzeiteuropa. Er und seine 13 Tänzer und fünf Musiker aus 13 Nationen zeigen, wie gelebte Integration aussehen könnte: Irgendwann reden sie alle in ihren Muttersprachen durcheinander, arabische Gesänge vermischen sich mit asiatischem Trommelschlag.

Kung-Fu-Bewegungen mit gerade vom Körper weggestreckten Armen treffen auf weiche Gummiglieder, rasend schneller Breakdance auf softe Contact-Improvisation. Cherkaoui ist ein begnadeter Stilmischer und Bildererfinder. Mit fünf riesigen Quadergerüsten aus Metall lässt er hier den Turmbau erproben. Mit vereinter Kraft werden sie ineinander geschoben, bis der Bau symbolisch aufragt, um sich im nächsten Moment schon wieder zu verschieben, zu kippen.

Tänzer wuseln durch Kubenleerraum, springen über die Streben, als wollten sie beständig spielerisch den Grenzübertritt üben. Dann wieder donnern sie gegen die unsichtbaren Wände. Das von dem Künstler Antony Gormley kreierte Bühnenelement kann vieles sein: Baustein und Gefängnis, Wäschekammer und Flughafen-Kontrollschleuse.

Eine Automaten-Frau mit Fritz-Lang-„Metropolis“-Appeal stakst auf hohen schwarzen Plateau-Lackstiefeln durch den Abend. Und erklärt, untermalt von Gebärdensprache, dass die Menschen einst nicht mit Worten, sondern Gesten kommunizierten. Auch andere agieren mal wie Kommunikations-Maschinen: sie spucken Klischee-Haltungen, Konventionsmimik aus, nicken roboterhaft mit dem Kopf und knipsen ihr überfreundliches Lächeln an und aus. Immer wieder sehen wir Szenen der Abgrenzungsbemühungen. Alle fahren seitlich die Arme aus, um das eigene Territorium zu markieren, dem Nachbarn gönnt man keinen Zentimeter mehr. Dann löst sich das Ensemble zu Kampfgesten, Tritten und Ellbogenstübern aus. Später wird das Jeder-gegen-Jeden in Zeitlupe performt, ballen sich die Körper in barocken Konflikttableaus.

Zwischendurch brilliert Darryl E. Woods in parodistischen Entertainer-Einlagen. Als Immobilienmakler preist er die Hohlräume der Quader teuer an, später in ignoranter Großmacht-Manier Englisch als die einzig mögliche Weltsprache. Oder er doziert über Spiegel-Neuronen, die uns – sind nur die Rezeptoren der Haut betäubt – etwa die Berührung spüren lassen, die wir an anderen nur beobachten. Sind wir doch zur Empathie geboren?

So gibt es auch zärtliche Zweisamkeitsduette, in denen Finger über Körper wandern und Leiber sich umeinander schlingen. Der Körper als Träger einer potenziellen Menschheitssprache. Auch wenn an diesem bildgewaltigen, ideensprühenden Abend nicht jeder Einfall dramaturgisch Hand und Fuß ha und die thematische Anbindung einiger Szenen eher lose wirkt, reicht allein die je individuell ausgeprägte Brillanz der Tänzer, um hundert Minuten lang um das Publikum zu Standing Ovations zu treiben. Am Ende verschmelzen die Tänzer zu einem Vielfüßlerwesen. Wo jeder seinen Fuß hinter den des Nebenmannes einhakelt, kann man nur noch gemeinsam vorwärtsgehen. Vielleicht müsste so in Zukunft der Fortschritt gedacht werden.

■ „Babel [words]“. 11./12. Dezember im Haus der Berliner Festspiele