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Archiv-Artikel

Der Beschäftigte

Ja, sagt Brauksiepe, Kinder sollten für ihre arbeitslosen Eltern haften. Der Staat könne nicht alles zahlenVielleicht muss man so reden, wenn man den eigenen Erfolg von jeheran Zahlen festmacht

AUS GEVELSBERG HEIKE HAARHOFF

Ralf Brauksiepe soll jetzt mal träumen. Er soll sagen, was er tun würde für die Unterschicht, Pardon: für die Millionen armer Menschen ohne bezahlte Arbeit in Deutschland, wären da kein Finanzminister, kein Arbeitsminister, kein Koalitionspartner und kein Haushaltstitel, die zu berücksichtigen es gälte. Kurz: wäre da nur er, Ralf Brauksiepe, mit seiner ganzen Entscheidungsmacht.

Es ist eine Frage, die man so eigentlich nicht stellen darf, nicht einem Profipolitiker wie Ralf Brauksiepe. Sie ist eine Steilvorlage, um sich als Gutmensch, als Anwalt der Armen zu gerieren. Erst recht nicht Ralf Brauksiepe – er ist arbeitsmarkt- und sozialpolitischer Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion.

Brauksiepe sitzt mit der Frage nach seinem Traum in einem Café im westfälischen Gevelsberg, einer Kleinstadt mit viel Fachwerk und noch mehr Schiefer unweit seines Wahlkreises und seiner Heimatstadt Hattingen am südlichen Rand des Ruhrgebiets. Er ist ein großer, schlanker Mann. Nächstes Frühjahr wird er 40, er hat noch kein graues Haar.

Er guckt freundlich-irritiert durch eine randlose, vieleckige Brille. „Also mit mir gäbe es frühkindliche Bildung und den Kombilohn“, sagt er schließlich, „wenn ich allein das Sagen hätte, würde ich dieses Modell umsetzen“.

Es entsteht eine Pause. Er sieht aus, als sei die Frage für ihn damit abschließend beantwortet.

Den Kombilohn fordert die CDU doch schon jetzt. „Ja, ich glaube, wir sind da auf einem sehr guten Weg …“ Und darüber hinaus? Brauksiepe schweigt. Was, wenn er zu entscheiden hätte?

Ralf Brauksiepe setzt sich sehr aufrecht hin. Man kann ihn sich jetzt vor einem Mikrofon vorstellen, wie er einatmet, bevor er die Vorschläge eines politischen Kontrahenten in der Luft zerreißt. „Ich habe da keine Forderungen zu stellen“, sagt er, „wir haben ja schon jetzt den größten Haushaltsposten, und obwohl die Arbeitslosigkeit zurückgeht, steigen die Kosten für die passiven Ausgaben weiterhin.“ Er klingt, als schäme er sich persönlich dafür – für den größten Haushaltsposten, für die Arbeitslosigkeit, für die steigenden passiven Ausgaben.

Ralf Brauksiepe sitzt der Arbeitsgruppe vor, die Gesetzesideen für die CDU/CSU im Bereich Arbeit, Soziales und Rente entwickelt. Er ist es, den die Union im Bundestag und bei anderen öffentlichen Debatten ans Rednerpult schickt, wenn es beispielsweise darum geht, ob Hartz-IV-Empfängern, die mehrmals ein Jobangebot ablehnen, die Leistungen gekürzt werden sollen. Ja, sagt er dann, denn diese Menschen bräuchten offenbar die Hilfe der Solidargemeinschaft nicht. Ja, antwortet er auch, wenn gefragt wird, ob Kinder für ihre arbeitslosen Eltern haften sollten. Schließlich könne der Staat nicht für alles aufkommen. Weshalb übrigens umgekehrt jungen Arbeitslosen zuzumuten sei, auf die eigene Wohnung zu verzichten und bei ihren Eltern zu leben: „Ich kann nicht erkennen, dass diese Familienverhältnisse plötzlich alle so zerrüttet wären“, sagt er in Gevelsberg.

Es gebe durchaus noch Einsparpotenzial, findet er: Minijobs beispielsweise sollten kein zusätzlicher Notgroschen mehr sein, sondern künftig lieber voll auf den Hartz-IV-Regelsatz, 345 Euro im Monat, angerechnet werden. „Den Hilfebedürftigen Anreize schaffen, selbst Leistung zu erbringen“, nennt er das.

Von den Menschen, die diese Leistung trotzdem nicht erbringen werden, solange es sich in Deutschland so verhält, dass für 4,085 Millionen Menschen angeblich keine bezahlte Arbeit da ist, redet er wenig, und wenn, dann auf Nachfrage. „Das Problem in der Sozialpolitik ist, dass es zu viele konkrete Fälle gibt. Man bekommt nicht immer eine Einzelfallgerechtigkeit hin.“ Es ist eines der seltenen Male, dass man den Eindruck gewinnen kann, dass Ralf Brauksiepe die Materie, auf der er gerade politische Karriere macht, irgendwie doch nahe geht.

„Das kann nicht so weitergehen“, sagt er dann aber schon wieder und meint die steigenden Ausgaben. Er ist jetzt ernstlich besorgt. „Sehen Sie mal, das muss doch alles erst mal aufgebracht werden von den Menschen, die jeden Morgen früh aufstehen und zur Arbeit gehen.“ Und als habe er Sorge, man könne ihn missverstehen, setzt er nach: „Man muss dazu nur mal ins Gesetz gucken. Darin steht, dass, wer nicht arbeitet, auch seinen Teil dazu beitragen muss, seine Hilfebedürftigkeit zu reduzieren.“

Vielleicht muss man so reden, wenn man Erfolg und Misserfolg der eigenen Arbeit von jeher an Zahlen, Statistiken, Erhebungen, Theorien festmacht. Vielleicht redet man so, wenn man ahnt, dass die eigene Partei einen vermutlich nicht vom hinterbänklerischen Mitglied des Entwicklungsausschusses zum Sprecher eines zentralen Politikbereichs befördert hat, um hier den Sozialarbeiter zu mimen. Sondern um Gesetze zu erarbeiten, die erstens den Haushalt nicht zusätzlich belasten, zweitens den Arbeitgebern Lust auf Neueinstellungen machen und drittens die Regierung in einem positiven Licht dastehen lassen: Von 62 Millionen Wahlberechtigten sind immerhin nur vier Millionen arbeitslos gemeldet.

Ralf Brauksiepe ist promovierter Wirtschaftswissenschaftler. Seine acht Jahre als Arbeitnehmer verbrachte er als Assistent an der Universität Bochum, seither, seit 1998, ist er Bundestagsabgeordneter. „Ich habe mich immer wissenschaftlich mit Dingen auseinandergesetzt“, sagt er, „das hilft für das Grundverständnis von Dingen“.

Auf gewisse Weise ist er so auch zur Politik gekommen. Weltverbesserertum, Opposition gegen das eigene Elternhaus oder jugendlicher Idealismus jedenfalls waren es nicht, die den 16-jährigen Ralf Brauksiepe, Sohn einer katholischen Hausfrau und eines christdemokratischen Schlossers, 1983 in die Junge Union führten.

Es war die Hochzeit der Friedensbewegung, Nato-Doppelbeschluss, SS 20 und Pershing II das Vokabular, das zu beherrschen es galt, und Ralf Brauksiepe aus Hattingen hatte es drauf, er wollte ja mitreden: „Wir hatten dann aber Lehrer, die sagten, heute machen wir mal keinen Unterricht, heute reden wir über Krieg und Frieden. Die sagten: Ich bin für den Frieden, deswegen bin ich gegen die Nato.“ Die gingen ihm gehörig auf den Wecker mit ihrer vermeintlichen moralischen Überlegenheit. Also machte sich Ralf Brauksiepe kundig und las, was er kriegen konnte: Ungarn 1956. Prag 1968. Kriegsrecht in Polen 1981. „Ich fand es brutal, wie das sowjetische Menschenbild die Menschenrechte mit Füßen trat. Wenn auf dem Verhandlungsweg nichts zu erreichen ist, dann müssen wir uns wappnen, dachte ich – das finde ich übrigens auch heute noch.“

Katholik, Christdemokrat, Außenseiter. Ralf Brauksiepe ist es gewohnt, in manchen Kreisen unbeliebt zu sein. Es stört ihn nicht. Er legt es nicht darauf an, jeden überzeugen zu wollen. Lieber konzentriert er sich auf die, von denen er glaubt, die Auseinandersetzung lohne sich.

Die Bethel-Stiftung in Gevelsberg feiert Anfang November ein Baustellenfest. Langzeitarbeitslose Männer jenseits der 50 haben in nur knapp einem Jahr ein verfallenes historisches Fachwerkhaus so zurechtgezimmert, dass es demnächst wieder nutzbar ist. 19 Männer haben an dem Projekt, unterstützt von der örtlichen Jobagentur und dem Bundesarbeitsministerium, teilgenommen, sechs von ihnen haben mittlerweile eine Beschäftigung auf dem ersten Arbeitsmarkt gefunden. Hans Butzmann, 53 Jahre alt, ist einer von ihnen.

Es ist ihm anzusehen, welche Überwindung es ihn kostet, vor der Festgesellschaft aus lokalen und überregionalen Honoratioren zu sprechen, aber er fasst sich ein Herz und bedankt sich artig, dass er „dank der Maßnahme“ jetzt einen Job als Lkw-Fahrer habe. Der habe zwar mit seiner ursprünglichen Ausbildung als Bauzeichner nichts zu tun, aber immerhin. Als er seine kurze Ansprache beendet hat, klatscht Ralf Brauksiepe. Dann wird das Büfett eröffnet, und der Mann aus Berlin smalltalkt mit dem Landrat, mit der Landtagspräsidentin, auch mit dem Geschäftsführer der Bethel-Stiftung. Bevor er weitermuss, isst er eine Frikadelle. Ein Gespräch mit Hans Butzmann hat sich für ihn nicht ergeben.

Betroffenheit und eigenes Erleben sind keine Garanten für gute Politik. Aber sie können hilfreich sein, die Situation anderer nachzuvollziehen. Ralf Brauksiepe hat viel Glück gehabt im Leben. In seiner Partei ist es für ihn bislang immer nur aufwärts gegangen. Seine Studienplatzwahl traf er wohnortnah und nach dem Kriterium „was interessiert mich von der Sache und was hat gute Chancen auf dem Arbeitsmarkt“. Das Steckenpferd seines Professors waren die Ökonomien islamischer Länder. Ralf Brauksiepe promovierte darüber. Er bekam zweimal in Folge eine Assistentenstelle an seiner Heimatuni. Er hat eine Frau, Dr. Ulrike Brauksiepe, die intellektuell mit ihm mithält und auf die eigene Karriere zugunsten der Kinder und der Familie weitgehend verzichtet, ohne dabei auch nur eine Spur bitter zu wirken. Die Brauksiepes haben vier gesunde Kinder, die in einer restaurierten ehemaligen Scheune am Waldrand aufwachsen. Der älteste Sohn kann auch deswegen auf eine andere Grundschule als die Regelschule im Einzugsbereich ihres Wohngebiets gehen, weil die Brauksiepes über das nötige Geld, die nötige Zeit und das nötige Personal verfügen, ihn für die optimale frühkindliche Bildung täglich quer durch die Stadt zu kutschieren.

Die Politik kennt solche scheinbar bruch- und risikolosen Karrieren, die mitunter Neid wecken. Doch anders als beispielsweise die Familienministerin Ursula von der Leyen, die mit ihrem Lächeln die ganze Welt zu umstrahlen scheint, als wolle sie sagen: „macht’s wie ich – ich gönne es euch!“, schwingt bei Ralf Brauksiepe der Vorwurf auch dann noch mit, wenn er es eigentlich gut meint: „Meine Idee war immer: Man muss bei dem, was man macht, gut sein, dann ergeben sich auch konkrete Beschäftigungsfelder.“ Er sagt das weder zynisch noch ironisch.

Gut sein, dann ergeben sich konkrete Beschäftigungsfelder. Er glaubt wirklich daran.