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Der Kapitalismus macht alles kaputt

THEATER Eine schrecklich nette Familie im Niedergang: Stephan Kimming inszeniert am Deutschen Theater Maxim Gorkis Stück „Wassa Schelesnowa“ mit Corinna Harfouch in der Hauptrolle

Zwischen dumpfem Endzeitbrüten und jäh eskalierenden Massenprügeleien, in denen oft und gern das nasse Handtuch eingesetzt wird, findet das Spiel seinen Rhythmus

VON CHRISTIANE RÖSINGER

Kaum hat die Wassa Schelesnowa ihre Apfelschnitze gegessen und sich der Rest der Familie in Morgenkleidung und Nachtgewand hereinschlurfend ins Spiel gebracht, wird klar: Hier gibt es mehr als ein Enfant terrible und für den Posten des Idioten der Familie stehen mehrere Anwärter bereit.

Wassa Schelesnowa (Corinna Harfouch) hält ihre Söhne auf unterschiedliche Weise für Versager, zu Recht. Borderliner Pawel (Alexander Khuon) gibt sich depressiv-aggressiv, sein Bruder Semjon (Christoph Franken) übt sich mittels körperlicher Vernachlässigung und debilem Grundverhalten in Fundamentalverweigerung. Seine Frau Natalja (Lisa Hrdina) ist mal Furie, mal renitenter Teenager mit Versorgungsmentalität.

Diese schrecklich nette Familie wohnt und hasst in einem loftartigen Büro. Das Bühnenbild (Katja Haß) deutet durch Metallgerüst moderne Architektur an: ein Tisch, eine kleine Teeküche, im Hintergrund ein Bett, zwischen den Akten trifft sich das Ensemble in seltener Eintracht zum Garderobenwechsel an den Kleiderständern.

Es geht natürlich ums Geld, die Geschäfte laufen schlecht, die Kinder sind faul und übersättigt und können keinerlei geschäftliche Visionen entwickeln, die Mutter ist kalt und herrisch. Verachtung ist das einzige Gefühl, das sie für den sterbenden Mann und die unfähige Nachkommenschaft übrighat.

Rot gebrüllte Köpfe

Im Zentrum des Spiels steht die Titelfigur Wassa, gespielt von Corinna Harfouch als eiserne Lady, reduziert mit fein abgestimmten sparsamen Gesten und nervösen Gesichtszuckungen. Oft hat man Harfouch schon in der Rolle der diszipliniert-verbitterten, innerlich erbebenden Karrierefrau in schicken Lofts oder schönen Eigenheimen der oberen Mittelschicht gesehen – was wohl daran liegt, dass die deutschen Film- und Fernsehproduktionen allzu oft dort spielen, wo auch ihre Autoren herkommen.

Als interessanter Kontrast zu Harfouchs eleganter Gestalt, der feinen Mimik zwischen mühsamer Beherrschung und unendlicher Müdigkeit, fungieren die interessant entgleisten Gesichtsausdrücke, rundlichen Figuren und rot gebrüllten Köpfe von Christoph Franken und Lisa Hrdina, sie könnten auch die Insassen einer Nervenheilanstalt geben.

Der fiese Onkel und Mitinhaber Prochor (Michael Goldberg), ein beflissener Assistent, ein Verwalter und eine verhaltensauffällige Schwägerin erweitern das Personal, wie sie genau zueinander stehen, bleibt unklar. Irgendwie ist jeder mit jedem ungut erotisch oder geschäftlich verstrickt, verwandt, verfeindet. Man fingert aneinander rum oder schlägt sich ins Gesicht – Frauen und Männer, die über den Rand des Nervenzusammenbruchs schon längst hinaus sind. Als der unsichtbare Vater, der seit Monaten irgendwo „unten“ dem Tod entgegensiecht, stirbt, eskaliert die Situation. Prochor will das Geld zurück, das er in die Firma gesteckt hat, der Bankrott ist unvermeidbar.

Pawel wird aggressiver mit Tendenz zum sexuellen Übergriff, Semjo versucht die Mutter mit debilem Sabbern und dem Ausstoßen von schrillen Tönen und Rabenvögelgekrächze in den Wahnsinn zu treiben.

Zwischen dumpfem Endzeitbrüten und jäh eskalierenden Massenprügeleien, in denen oft und gern das nasse Handtuch eingesetzt wird, findet das Spiel seinen Rhythmus.

„Wassa Schelesnowa“, von Maxim Gorki 1910 unter dem Eindruck der ersten gescheiterten russischen Revolution geschrieben, zeigt die die moralische Verkommenheit der Kaufmannschaft. Die Härte der Mutter siegt über die Fürsorge, und mit ihren Entscheidungen für die Familie und den Betrieb zerstört sie gerade das, was sie unbedingt erhalten will. Gorki wusste es ja schon: Der Kapitalismus macht alle Beziehungen zu Warenbeziehungen und alles kaputt.

Es liegt nahe, historische Stücke über dysfunktionale Familien zu aktualisieren. Zwar ist der Familienbetrieb heute eher die Ausnahme, doch das Problem der Erbengeneration, die noch im behüteten Mittelstand aufgewachsen ist, aber nicht mehr den Lebensstandard der Eltern erreichen kann, scheint einigen Kulturschaffenden unter den Nägeln zu brennen.

Unter Stephan Kimmings Regie wurde das Stück stark gestrafft und modernisiert, das Umgangssprachliche wirkt jedoch hölzern und bemüht, die Absurditäten des Originaltextes gingen verloren. So bleibt auch der Schluss – eine Pistole taucht auf, wird aber nicht abgefeuert – seltsam unentschlossen, so wie der freundlich anhaltende Applaus des Premierenpublikums, der wohl eher die schauspielerische Leistung des Ensembles als die Inszenierung meint.

■ Deutsches Theater, nächste Termine 22., 24. + 25. Mai

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