: Die leise Hoffnung im Gepäck
Kein Mythos ist ihm zu schwer, um das Spiel darin zu suchen, keine Beziehung zu eng, um nicht ein gesellschaftliches System darin zu verorten: Der Regisseur Andreas Kriegenburg gehört zu den Nominierten des Deutschen Theaterpreises. Ein Porträt
VON SIMONE KAEMPF
Die Inszenierungen von Andreas Kriegenburg ergeben mittlerweile eine beachtliche Liste. Neben Aischylos, Brecht und Wedekind hat er auch Filmstoffe von Fassbinder oder Kaurismäki auf die Bühne gebracht. Dass auch eine erste Opernarbeit, „Orpheus und Eurydike“, dazu gekommen ist, hat sich nur langsam herumgesprochen. Jetzt ist er mit dieser Inszenierung aus Magdeburg für den Faust nominiert, einen vom Deutschen Bühnenverein neu ins Leben gerufenen Theaterpreis, der am Freitag erstmals vergeben wird. Ein überraschender Erfolg: Die Partitur von Glucks barocker Oper hat Kriegenburg nicht anders als einen Dramentext angepackt und mit komischen, anrührenden und schmerzlichen Szenen neue Blicke auf die Geschichte geworfen. „Ich versuche immer die Freiheit in festen Struktu- ren zu suchen. Beide bedingen sich gegenseitig“, sagt der Regisseur.
Mit diesem Facettenreichtum der Perspektiven bearbeitet er auf der Bühne Mythen. Den des Deutschen zum Beispiel. Seine Inszenierung der „Nibelungen“, die vor zwei Jahren an den Münchner Kammerspielen herauskam, war gespickt mit Karikaturen von Tugenden wie Treue, Ehre, Mut und Freundschaft, verwandelte ihre Motive immer wieder kurzweilig vom Slapstick zur düsteren Dramatik, vom chorischen Sprechen des verzehnfachten Siegfried zu Kriemhilds einsamem Monolog. Hautnah konnte man erleben, wie sich über die Mechanik des zwischenmenschlichen Versagens der Männer und Frauen am Wormser Hof ein politischer Untergang erzählen ließ. Der Abend war ein Riesenerfolg, als er im Mai 2005 auf dem Theatertreffen Berlin gezeigt wurde. Die Inszenierung der „Nibelungen“ befreite Kriegenburg von den Resten des Rufs, der ihm seit der Nachwendezeit, als er an der Volksbühne Berlin arbeitete, anhaftete: ein Zerleger von Stücken zu sein, der auf den Trümmern, so wurde es tatsächlich beschrieben, sein Theater begründet.
Freilich beherrschte er die Collagetechniken schon zu diesem Zeitpunkt perfekt. Doch das Ziel der Zerlegung ist nicht der Verrat des Stoffes, sondern die Suche nach Haltung: Dafür kombiniert der heute 43 Jahre alte Regisseur fantasievoll wie kaum ein anderer verschiedene Stil- und Stimmungselemente, Slapstick, Musik, Tanz und jüngst auch Puppenspiel, um komplexe Figuren zu zeigen.
Wer seine Arbeiten in den letzten Jahren verfolgen konnte, sah, wie das Verhältnis des Einzelnen zur Gesellschaft inhaltlich noch einmal differenzierter geworden ist. Jetzt sind es nicht mehr nur die Underdogs wie Woyzeck, die immer den Kürzeren ziehen. Seine Figuren lassen sich auch dort orten, wo sie an die Hebel der Macht kommen und plötzlich Verantwortung tragen. Oft wirken die Siegfrieds, Richards oder Macbeths damit allein gelassen und überfordert. Als einziger Versuch, über ihre Mittelmäßigkeit hinauszuwachsen, bleibt ihnen nur, ihre eigene Trivialität zu ironisieren.
„Es gab eine Zeit in den 90er-Jahren, da hat man Politik nicht ernst-, sondern nur als Theater wahrgenommen“, erinnert sich Kriegenburg an jenen Punkt, der seine Sehnsucht danach, Position zu beziehen, neu erzeugte. Wie Kriegenburg sich selbst wieder mehr Gedanken darüber macht, war seiner Inszenierung der „Schmutzigen Hände“ am Thalia Theater Hamburg im Mai jedenfalls anzusehen, die viel eindringlicher wirkte als etwa sein drei Jahre alter „Macbeth“, der am Bösen vor allem das Skurrile betonte.
Kriegenburg scheut plakative Zugriffe nicht, das bringt ihm immer wieder Kritik ein. Er ist im Laufe der Zeit dickfelliger geworden; das Einzige, was ihn wirklich ärgert, ist, wenn man ihm Unachtsamkeit unterstellt. „Ich nehme für mich in Anspruch, mit Szenen sehr kleinlich zu sein und Stücke sehr genau zu lesen.“ Das sagt der Regisseur aber weder kleinlich noch verärgert.
Kriegenburg ist kein Pedant und kein Zyniker. Er gibt sich offen und entspannt, auch wenn er in diesen Tagen noch mitten in den Proben steckt. Am Sonntag hat seine Inszenierung von Tschechows „Drei Schwestern“ an den Münchner Kammerspielen Premiere. Vorher, am Freitag, will Kriegenburg noch nach Essen zur Verleihung des Deutschen Theaterpreises im Aalto Theater reisen. Auch wenn er selbst glaubt, dass Jossi Wieler in der Sparte Musiktheater die Auszeichnung erhalten wird. Schließlich ist schon die Nominierung, jeweils drei Künstler in acht unterschiedlichen Sparten, eine Ehrung, sind sie doch aus mehr als 500 Vorschlägen ausgewählt worden.
Kriegenburg, Jahrgang 1963, wuchs in Magdeburg auf. Nach einer Tischlerlehre in einem Großbetrieb wechselte er in die Werkstatt des Theaters und entdeckte dort seine Berufung: selbst zu inszenieren. Nach Stationen in Zittau und Frankfurt (Oder) ging er an die Volksbühne, noch bevor Castorf dort Intendant wurde, und entwickelte seine Art choreografischen Körpertheaters weiter. 1993 machte er zum Beispiel an der Volksbühne einen „Othello“, in dem sich die Figuren gegenseitig schulterten, als Schlafmatten nutzten oder einander über die Bühne zogen. So wurden vielfältige Beziehungsmuster zwischen den Geschlechtern körpersprachlich sichtbar – das ist bis heute seine Handschrift geblieben.
Auch Musik spielt dabei immer wieder eine Rolle, und wahrscheinlich war es nur eine Frage der Zeit, bis sich Kriegenburg dem Musiktheater näherte. Immer wieder versagte vor allem den Männern in seinen Schauspiel-Arbeiten die Sprache, die sich dann auf die emotionale Ebene der Musik retteten. In „Orpheus und Eurydike“ hat Kriegenburg für das wiederum Unausdrückbare der Musik das Sängerpaar mit zwei Tänzern gedoppelt. In einem stillen Intro erzählen sie die Vorgeschichte: vom Tod der Frau durch einen Schlangenbiss und vom Mann, der nicht loslassen will. Wie er um ihr wehendes Kleid kämpft, das der Chor ihm zu entreißen versucht, ist so anrührend schön, dass man für den Rest des Abends gefangen ist.
Seit 1991 arbeitet der Regisseur an vielen Theatern im Westen, am Schauspiel Hannover, am Burgtheater Wien, dem Thalia-Theater Hamburg. Sein Misstrauen gegenüber politischen Verlässlichkeiten bleibt trotzdem von der Jugend in der DDR geprägt. Manchmal staunt Kriegenburg selbst, wie wenig Abnutzung seine eigene Sozialisierung erfahren hat. Für seine Arbeit haben sich daraus Stärken entwickelt: Auf den Proben vermeidet er, den Schauspielern ideologische Motivationen für ihre Rollen vorzugeben, und auch die Auswahl seiner Stücke ist davon beeinflusst. „Es interessiert mich nicht, wenn Stücke nur Sprachventil für eine Jetzt-Beschreibung sind. Figuren sind für mich viel schneller und kontroverser wahrnehmbar, wenn sie eine Vergangenheit haben und in eine Zukunft gehen.“ Becketts Werk ist ihm deshalb fremd, aber auch vieles aus der zeitgenössische Dramatik – bis auf eine große Ausnahme: Dea Loher.
Seit Mitte der 90er-Jahre hat Kriegenburg fast alle ihre Stücke uraufgeführt. Gemeinsam teilen sie die Vorsicht vor dem Begriff politisches Theater, für den sie in ihrer Alltagsumgebung keine Entsprechung sehen. Beschreiben dennoch gesellschaftliche Miseren, ohne sich an eine politische Instanz zu richten. Wo Loher düster und pessimistisch ist, bringt Kriegenburg leise Hoffnung ins Spiel. Ihre Selbstmörder, illegalen Einwanderer oder einsam gealterten Stadtbewohner stehen oft wie Verlierer da, für die Kriegenburg mit Komik wieder Abstand gewinnt. An Loher kann Kriegenburg messen, dass sein Weltbild im Grunde ein optimistisches ist. Dass sich immer wieder Beziehungsmuster in seinen Inszenierungen zeigen, die auf größere Zusammenhänge verweisen, macht das Solitäre seiner Arbeiten aus. Auch wenn die Figuren diese Muster nicht ändern können. Große Momente entstehen dennoch.