: Diese Erscheinung, diese Stimme
WELTSTAR Charles Aznavour feiert seinen 90. Geburtstag mit einem Konzert in der 02 World – und er macht das natürlich großartig
Wenn an einem Donnerstagabend Best-, Silver- und Golden-Ager aus allen Himmelsrichtungen zur O2-Halle strömen, wenn Reisebusse aus Dänemark und Brandenburg ankommen, wenn überall Französisch gesprochen wird, wenn Ulli Zelle mit einem RBB-Team vor der Halle steht und Romy Haag interviewt, dann ist wohl ein Weltstar nach Berlin gekommen.
Gekommen ist am Donnerstag Charles Aznavour, neben Juliette Gréco, der Letzte aus der alten Garde der französischen Chansonniers – um auf der Bühne seinen neunzigsten Geburtstag an diesem Tag ausdrücklich nicht zu feiern. Als das Publikum ihn mit Ovationen begrüßt und „Happy Birthday“ anstimmt, wehrt er schnell ab und beginnt mit der Show. Und vom ersten Lied an kann man nur mit Bewunderung auf die Bühne blicken: Diese Erscheinung, diese Stimme!
Es ist niemals die Stimme eines 90-Jährigen, sie ist immer noch kraftvoll und dynamisch, er kann lange Bögen halten, auch wenn an deren Ende die Töne manchmal ein wenig wackeln – er flüchtet sich nicht wie andere alte Sänger in das mit viel Hall unterlegte, bedeutungsvolle Raunen.
Zu Beginn seiner Karriere hatte man es dem 1924 als Sohn armenischer Einwanderer in Paris geborenen Aznavour nicht leicht gemacht: Zu klein und zu hässlich sei er, hieß es, ein Zwerg mit krächzender Stimme. Dabei klingt seine Stimme nur etwas rau und mediterran mit einem speziellen Tremolo. Sie habe etwas von einem Muezzin, sagt Aznavour selber, auch etwas Persisches und Nordafrikanisches.
Von den rund tausend Liedern die er geschrieben hat, singt er die Bekanntesten, „Hier encore“ , „Jamais plus“, „For me formidable“ und „She“, das den Bewunderern der romantischen Komödie aus dem Film „Notting Hill“ bekannt sein muss.
Zwischendrin parliert er auf Französisch und ein wenig auf Englisch, es geht um Chansons, um die Jugend, die so schnell vorbei sei, um die Liebe, korrupte Politiker und Probleme mit dem Teleprompter. Bei „La Bohéme“ , stürzt plötzlich ein 70-plus-Pärchen zum Bühnenrand: Seit jeher nimmt Aznavour an dieser Stelle ein weißes Stofftaschentuch aus der Anzugjacke und wirft es ins Publikum – die lauernden Rentner recken sich und fangen es geschickt auf.
Zu „Comme ils disent“ erzählt er, wie die Plattenfirma 1969 entsetzt gefragt hat: Aber wer soll das singen? Dass ein heterosexueller Sänger sich in einem Song als schwuler Mann ausgibt, der ein Doppelleben führt, tagsüber bei der Mutter lebt, sich aber abends in den Fummel wirft und als Travestiekünstler auftritt, war schlicht nicht denkbar. So kam es auch 1970 zum Skandal, als Aznavour in der deutschen Fernsehshow „Drei mal Neun“ die deutsche Version („Isch bin ein ’omo, wie sie sagen“) singen wollte. Vier Jahrzehnte vor Conchita Wurst war so etwas im deutschen Fernsehen nicht möglich.
Wenn man mäkeln will
Man muss als Musikkritikerin aufpassen, bei Konzerten von alten, großen Showlegenden nicht einem umgekehrten Kindchenschema, dem Charme der Greise, zu erliegen. Es gibt natürlich auch was zu bekritteln an dem Konzert: Das Duett mit Tochter Katja gerät recht sentimental, das „Ave Maria“ furchtbar kitschig, die opulenten Arrangements sind arg achtziger …
Aber was soll’s: Es ist großartig. Was für eine Stimme, was für ein Charisma, was für eine Kondition: Mit 90 Jahren fast zwei Stunden auf der Bühne zu singen, kerzengerade oder mit einem vorsichtigen, aber geschmeidigen Tänzeln.
Am Schluss nimmt er die vielen Blumengebinde entgegen, bedankt sich mit einer großen Geste beim ganzen Zuschauerrund und verschwindet gar mit einem übermütigen Sprung ins seitliche Bühnendunkel.
Aber bei einem 1998 von der New York Times als „Entertainer des Jahrhunderts“ ausgezeichneten Sänger ist natürlich nichts zufällig. Genauso, mit einem glücklichem Lächeln und einem Blumenstrauß im Arm von der Bühne tänzelnd, will er seinem Publikum wohl in Erinnerung bleiben. CHRISTIANE RÖSINGER