: Amerika starrt geradeaus
Post aus New York: Das Weltbild der US-Wähler hat sich nicht verändert – aber die Republikaner vermitteln nicht mehr den Eindruck, sie könnten es umsetzen
Die Republikaner haben die Mehrheit im US-Kongress verloren. Bedeutet das, dass die Amerikaner der republikanischen Weltanschauung eine Absage erteilt haben?
Selbst wenn sie nicht sicher sind, für was die Demokraten eigentlich stehen: Amerika hat genug vom Irakkrieg. Von Finanzskandalen. Von Steuersenkungen, von denen nur die oberen zehn Prozent der Bevölkerung profitieren. Davon, belogen zu werden. Und von den Predigten selbstgerechter Bibelkundiger.
Trotzdem wäre ich mit vorsichtig dieser Schlussfolgerung. Und zwar, weil ich den Film „Borat“ gesehen haben. Das Weltbild der US-Amerikaner hat sich nicht verändert – aber die Republikaner vermitteln nicht mehr den Eindruck, sie könnten es in die Praxis umsetzen. So gesehen haben die Amerikaner keineswegs ihre Philosophie gewechselt. Sie schauen nicht in die andere Hälfte des Spielfeldes wie die Zuschauer bei einem Tennisspiel. Vielmehr starrt Amerika unbeirrt geradeaus und die Republikaner haben den Bildschirm verlassen. Zumindest für den Moment.
Was auch immer der Rest der Welt behauptet: Amerika hat einen Kernbestand von gemeinsamen Glaubenssätzen und Werten. Es glaubt an die freie Wirtschaft und an Politikformen (Stichwort „kleine Regierung“), die auf individueller Selbstverantwortung basieren. Es glaubt daran, dass Menschen perfekt werden können. Es glaubt an seine weltweit außerordentliche Rolle dabei, sie dazu zu bringen. Und, dass es eine Regierung und Armee benötigt, die groß genug sind, um all das zu tun.
Die Finanzskandale der Republikaner, der laut Umfragen zweitwichtigste Grund für den Sieg der Demokraten, haben gewiss den Sinn für Fair Play und Chancengleichheit verletzt, den Selbstverantwortlichkeit und Perfektionierbarkeit des Menschen implizieren. Aber einen Skandal abzulehnen hat nichts mit veränderten Werten zu tun.
Bushs Steuersenkungen haben bei der Wahlentscheidung keine Rolle gespielt. Sie regen Amerika nicht sonderlich auf, weil man sich hier an Reichen nicht stört. Reiche werden als Unternehmer gesehen, die Risiken eingehen – und die Amerikaner glauben, dass sich eigenes Risiko lohnen muss.
Es sind genauso viele Amerikaner – circa 30 Prozent – protestantische Fundamentalisten wie vor den Wahlen, und sie haben die US-Politik weit weniger verändert, als behauptet wird. Weder wurden Abtreibungen verboten noch die Homoehe. Es gibt weder Schulgebete noch Kreationismus als Fach in den Schulen. Sie bestimmen nicht die Nahostpolitik. Fragen Sie sich selbst: Wenn es dort kein Öl gäbe: würde der protestantisch-fundamentalistische Glaube an die Sammlung der Juden in Israel als Vorbedingung der Wiederkehr Christi auch nur einen Panzer in diese Region bringen?
Das Desaster im Irak sieht nicht mehr aus wie eine Befreiungsmission – aber das bedeutet keine Kehrtwende. Den Republikanern wird verübelt, dass sie es nicht geschafft haben, die Vision umzusetzen. Eine andere Vision aber erwartet niemand. Wäre die Nachkriegszeit im Irak nur ein bisschen erfolgreicher verlaufen – die Amerikaner würden heute weder darüber klagen, dass wir dort sind, noch darüber, dass uns die Lügen der Regierung über Saddams angebliche Massenvernichtungswaffen dorthin gebracht haben. 62 Prozent der US-Wähler sind weiterhin sicher, dass ihre Nation eine besondere globale Rolle spielt und das Recht auf Präventivschläge hat.
Keine Partei hat die Garantie, dass die Amerikaner in ihr den Träger ihrer Werte sieht. Aber die Werte selbst sind seit 250 Jahren unverändert. Warum weiß ich das aus Borat, Sacha Baron Cohens sinnloser Satire? Cohen versucht in seinem Film drei Dinge: Erstens einen „boy-bathroom-slapstick“ (beim Wrestling einen fremden Arsch ins Gesicht kriegen). Zweitens arme kasachische Dörfler verspotten (die Szenen wurden in Rumänien gedreht). Und drittens eine Satire über die Amerikaner. Das Erste ist das, was es ist. Das Zweite ist witzlos. Und das Dritte geht nach hinten los.
Borat verhöhnt oder demütigt auf seinem Trip durch die USA alle: Juden, die jeden Grund haben zu glauben, dass er ein muslimischer Antisemit ist; WASPs aus dem Mittleren Westen, die Muslime für Terroristen halten; Südstaatler, die ihn in ihr Haus einladen; weiße Jungs, die überzeugt sind, dass „Minderheiten in den USA mehr Rechte haben als wir“. Aber alle sind unglaublich nett zu ihm: Das jüdische Ehepaar behandelt ihn wie ihren Sohn; ein Rodeomanager ermöglicht ihm als Rodeoreiter das öffentliche Absingen der US-Nationalhymne vor Publikum. Die Vorstadt-Südstaatler reißen sich schier ein Bein aus, um freundlich zu bleiben – sogar als Borat so tut, als wüsste er nicht, wie man eine Toilette benutzt, und Fäkalien mit zum Abendessen bringt. Die weißen Jungs, die Minderheiten hassen, umarmen ihn, sagen ihm, dass er ein guter Kumpel ist, und versuchen ihm bei seinen Frauenproblemen zu helfen.
Welchen Eindruck hinterlassen dabei die Amerikaner im Film? Egal, welchen Quatsch sie in ihrem Kopf haben, sie behandeln Borat als Individuum, helfen ihm großzügig und müssen wiederholt beleidigt werden, bis sie endlich aufzuhören, nett zu sein. Hier haben wir sie wieder, die amerikanischen Werte: Individualismus, der Glauben, dass Menschen perfekt werden können, und die naive Freizügigkeit, deren Ziel es ist, ihnen dabei zu helfen. Sogar die Szene im Waffengeschäft passt ins Bild, wenn man genau hinschaut: Borat fragt, welche Waffe er „zum Schutz gegen Juden“ kaufen sollte. Und der Besitzer empfiehlt, ohne mit der Wimper zu zucken, eine 9-Millimeter. Angesichts der Tatsache, dass ständig Leute in dieses Waffengeschäft kommen, um sich vor irgendetwas zu schützen, bin ich nicht sicher, ob der Besitzer das Wort Juden überhaupt aufgenommen hat. Aber wenn wir annehmen, dass er es doch getan hat: Dann ist das Antisemitismus. Der ist in den USA nicht anders als sonst wo, und wenn man der Menschenrechtsorganisation „Anti-Defamation-League“ glauben darf, dann ist es in den USA weniger weit verbreitet als etwa in Frankreich.
Die Demokraten wurden von 1932 bis in die später 60er-Jahre als Träger der nationalen Werte angesehen. Im Kongress hatten sie bis 1994 die Mehrheit. Sie glaubten, dass individuelle Selbstverantwortung Freiheit von Monopolen und Großkonzernen bedeutet, nicht Freiheit von der Regierung, wie die Republikaner meinen.
Zudem hatten die Demokraten eine besondere weltpolitische Aufgabe, nämlich den antiliberalen Faschismus und den antiliberalen Kommunismus zu besiegen. Sie verloren Wähler, als der Vietnamkrieg nicht mehr in diese antitotalitäre Erzählung passte und sie es nicht mehr schafften, die Arbeiter zu schützen, weil die Konzerne in Niedriglohnländer abwanderten. Es ist bisher unklar, ob die Demokraten einen Weg finden, wieder Amerikas Werte zu verkörpern. Sie haben kein Monopol auf diese Position. Aber wer das hat, der hat die Macht. MARCIA PALLY
Deutsch von SR und RR