: Freiheit statt Frontex
AKTIVISMUS In Straßburg ist am Dienstag der Marsch der Flüchtlinge Richtung Brüssel losgezogen
AUS STRASSBURG LENA MÜSSIGMANN
Turgay Ulu liegt barfuß auf einer Wiese am Stadtrand von Straßburg und beobachtet amüsiert die Szenerie. Die rund 100 Teilnehmer des Flüchtlingsmarsches machen Mittagspause im Schatten großer Bäume, essen Rote-Bete- und Kartoffelsalat mit Brot, trinken Chai, reden, schlafen. Turgay Ulu ist zufrieden. Hinter seinem linken Ohr klemmt ein Gänseblümchen. „Ist das nicht romantisch? Alle Menschen sind gleich. Es gibt keine Klassen.“
Turgay Ulu kommt aus der Türkei, ist nach 15 Jahren als politisch Inhaftierter geflohen und lebt jetzt in Berlin. Neben ihm haben sich Flüchtlinge aus vielen Ländern, die in Paris, Berlin, Hildesheim oder Bayern leben, auf den Weg gemacht. Sie wollen 450 Kilometer von Straßburg nach Brüssel gehen. Ihre Forderungen: Ein Europa mit offenen Außengrenzen. Ein weltweit gültiger Pass.
Der erste Tag fühlt sich für viele hier wie Urlaub an. Doch vier Wochen durchzuhalten, wird harte Arbeit sein, sagt Turgay Ulu. „Freedom not Frontex“ lautet das Motto des Marschs. Die europäische Organisation Frontex versucht, die europäischen Grenzen dicht zu halten. 17.000 Menschen sind Schätzungen zufolge bereits an diesen Grenzen gestorben. Der Marsch begann mit einer Schweigeminute.
Zeri ist 26. Er trägt auf den ersten acht Kilometern der Reise das straßenbreite Banner an der Spitze des Zugs mit. Zeri fordert: „Freiheit für alle.“ Sonst ist er wortkarg. Nur das noch: Menschenrechte existierten nicht, obwohl die Politiker es behaupteten. Mehr will er nicht sagen.
Die Sprechchöre singt er mit: „No border. No nation. Stop deportation!“ Die meisten Teilnehmer sind junge Männer wie Zeri. Sie sind euphorisch an diesem Tag. Es wirkt so, als breche sich eine Energie Bahn, die lange kein Ziel hatte. Selma, eine Berliner Unterstützerin, berichtet, dass die Stimmung dort zuletzt gedrückt gewesen sei. Davon ist in Straßburg nichts zu spüren. Ein paar Männer trommeln, Emal spielt Gitarre, Napuli, eine Anführerin der Berliner Flüchtlingsbewegung, tanzt. Mit einer unglaublichen Freude bringen sie ihre Botschaft in die Stadt.
„Jetzt wird unser Anliegen international“, sagt Napuli. Sie trägt ein blütenweißes Kleid und hat einen federnden Gang. „Wir bauen hier Brücken, die auch über Europa hinaus reichen“, sagt sie.
Die Polizei lässt sie reisen
Die Polizei sperrt Kreuzungen ab, ein Auto mit Blaulicht macht den Weg frei. Der Marsch ist einerseits schon ein kleines Stück der Freiheit, die die Teilnehmer fordern. Doch sie ist fragil. Einige haben keine Papiere, hätten schon beim Grenzübertritt von Kehl nach Straßburg auf der Rheinbrücke festgenommen werden können. Aber die Polizei lässt sie bislang reisen. Tags zuvor war jedoch eine Abordnung des Marschs an einem Roma-Lager bei Straßburg, erzählt eine Unterstützerin. Sie hätten dort am Zaun gerüttelt, um die Bewohner auf sich aufmerksam zu machen. „Hört auf“, habe ein Polizist gesagt, „sonst nehmen wir euch alle fest.“
In den Außenbezirken Straßburgs, den Arbeitervierteln, ist die Sympathie für den Marsch groß. Leute winken, pfeifen und rufen aus den Fenstern. Die Reaktion in ländlicheren Gegenden könnte anders ausfallen. Die Verwaltungen der Orte Marmotier (Frankreich) und Hastière (Belgien) hätten Anfragen für Übernachtungen abgeblockt, berichten Mitglieder des Organisationsteams. Am Parlament in Straßburg waren am Morgen die Statements der Flüchtlinge trotz Megaphon fast ungehört verhallt. Die Parlamentarier sind auf Wahlkampftour in ihren Herkunftsländern unterwegs. In der Lethargie der Mittagspause, bevor der Marsch Straßburg verlässt, sind die Gefühle gemischt. Kommen die Botschaften in Brüssel, Straßburg bei den richtigen Personen an? „Weiß nich“, sagt Ulu. Er schließt die Augen für einen kurzen Mittagsschlaf.