: Mr. No lebt hier noch
AUS NIKOSIA PHILIPP GESSLER
Wenn Oktay Kayalp die Lage seiner Stadt beschreiben soll, steigt er mit einem Fuß auf einen Stuhl. Dann schwingt sich der Mann im grauen Anzug durchs offene Fenster. Ein kleiner Sprung, schon steht der Bürgermeister von Gazimagusa, im Deutschen Famagusta, auf dem Flachdach seines Rathauses.
Der 49-jährige Nordzypriote weist mit dem Finger in Richtung Küste, wo auf sechseinhalb Kilometern ein Hochhaus neben dem anderen steht. Dieser Strand galt einmal als einer der schönsten des Mittelmeers. Hier gab es früher mehr Hotelbetten als in der ganzen Türkei. Doch die Tourismusperle ist zur Geisterstadt, besser: zum Geisterstadtteil Varoscha verkommen. Sie wurde zerschossen in den Kämpfen zwischen den griechischen Zyprioten und der türkischen Armee, die 1974 gut ein Drittel der Mittelmeerinsel besetzte. Die damals in Varoscha lebenden griechischen Zyprioten flohen oder wurden vertrieben. Seitdem ist der Traumstrand militärisches Sperrgebiet. Was der Krieg nicht zerstört hat, zerfällt zusehends. „Die Ratten und Raben hier“, sagt Kayalp, „sind die glücklichsten der Welt: Sie können in Fünf-Sterne-Hotels leben.“
Der Spruch ist zynisch, dabei ist Kayalp ein Pragmatiker. Sorgen macht ihm zum Beispiel das Trinkwassersystem, dessen Leitungen durch das Sperrgebiet laufen: Die müssten eigentlich dringend repariert werden, sie sind schon lange undicht. Das sei aber kaum möglich, erklärt Kayalp, schon wegen kleinster Probleme müsse er ab und an erst in New York bei der UNO nachfragen. „Das ist eben Weltpolitik“, meint er trocken. Kayalp bittet, in seinem Mittelklassewagen Platz zu nehmen – eine Spritzfahrt hinauf zur Stadtmauer. Von hier zeigt der Bürgermeister auf den Hafen, für den die türkischen Zyprioten einen zollfreien Handel verlangen. Der ist ihnen aber laut UN-Beschluss verwehrt, solange die türkische Okkupation fortbesteht.
Anschließend geht es wieder hinunter in die mittelalterliche Altstadt, die – so träumte vor ein paar Jahren der damalige EU-Erweiterungs- und heutige Industriekommissar Günter Verheugen – einmal so schön werden könnte wie das belgische Brügge. Immerhin, die alte Hafenstraße ist bereits mit Geld aus Brüssel saniert worden. Kayalp präsentiert die früher einmal gotische Kathedrale der Stadt, seit Jahrhunderten ist sie eine Moschee – ein Minarett thront auf dem Turmstumpf des linken Seitenschiffs. Lägen innen nicht Gebetsteppiche aus, man wähnte sich tatsächlich eher im Kölner Dom als in einer Moschee.
Draußen auf dem Vorplatz schüttelt der Bürgermeister kräftig den Ast eines Maulbeerfeigenbaums. Der ist so eindrucksvoll und alt wie die einstige Kathedrale: über 700 Jahre. Früchte fallen herab, Kayalp beißt in eine hinein. Der Bürgermeister strahlt.
Wären alle Politiker der Insel so wie Kayalp – das Zypernproblem würde nicht schon seit Jahrzehnten die internationale Politik verfolgen wie ein böser Geist. Einer, der dafür lange Zeit verantwortlich war, ist Rauf Denktasch, sein Spitzname: „Mr. No“. Der frühere Präsident der international nicht anerkannten Republik Nordzypern empfängt Gäste in seinem Büro, einem einstöckigen Wohnhaus in Lefkosa. Vor der Tür steht ein schwarzer Mercedes, daneben sind zwei Fahnenmasten mit der türkischen und der nordzypriotischen Flagge. Viele hier verehren Denktasch als den Vater der Nation – wie viel Einfluss er noch auf die Politik Nordzyperns hat, ist jedoch umstritten.
Der schwere Mann ist gerade aus der Türkei zurückgekehrt, dort feiern ihn die Nationalisten wie einen Helden. In Denktaschs Büro hängen mehrere Bilder von Atatürk, dem Staatsgründer der Türkei, hoch oben ein mächtiges Ölgemälde, das einen vor Kraft strotzenden Mann zeigt. „Mein Sohn“, erklärt Denktasch, „er ist bei einem Autounfall ums Leben gekommen.“ Ein weißes Hündchen scharwenzelt um seine Beine, es verliert dabei ordentlich Haare, furzt gelegentlich und kratzt sich bedenklich oft.
„Die Türkei hat uns gerettet“, sagt Denktasch, er meint damit die Invasion der türkischen Armee in den Norden der Insel vor 32 Jahren. Die türkisch-zypriotische Bevölkerung, sagt er, habe zuvor, vertrieben von den griechischen Zyprioten, auf nur noch drei Prozent der Insel leben dürfen. Folgt man Denktasch, schnurren die Jahrzehnte diplomatischer Mühsal zur Lösung der Zypernfrage zu einer ewigen Verhandlungsrunde zusammen, an deren Ende immer stand, dass „Mr. No“ zur Rettung „seines Volkes“, wie er sagt, eben „No“ donnern musste. Zuletzt hat Denktasch vor zweieinhalb Jahren zum „Annan-Plan“ zur Wiedervereinigung der Insel „No“ gesagt.
Der äußerst komplizierte Plan des scheidenden UN-Generalsekretärs sah ein einiges Zypern mit einer föderalen Verfassung vor. Während eine klare Mehrheit der türkischen Nordzyprioten diese Verfassung in einer Volksabstimmung akzeptierte, kreuzten die griechischen Südzyprioten mehrheitlich Nein an. Die Wiedervereinigung scheiterte – und Denktasch hatte irgendwie gewonnen. Noch heute spricht er nur von „zwei Völkern“ auf der Insel. „At least Mr. No stayed Mr. No“, sagt er zum Abschied.
Die derzeitige Regierung Nordzyperns ist relativ machtlos. Rund 70 Prozent ihres Etats stammen aus Ankara, jährlich sind das etwa 350 Millionen Dollar. Damit ist nicht viel Staat zu machen. Der Ministerpräsident Nordzyperns, Ferdi Sabit Soyer, sitzt im Empfangssaal seines erstaunlich schäbigen Amtssitzes. Soyer spricht im Tonfall eines gutmütigen Opas. Natürlich beklagt auch er die internationale Isolation seiner Republik. Und dass alle Flüge vom neuen nordzypriotischen Flughafen Ercan nur über die Türkei gehen dürfen, was wiederum den hiesigen Tourismus enorm schwäche. Hoffnung für die Wiedervereinigung hat er nicht. „Wir müssen uns auf die konzentrieren, die im Süden für den Annan-Plan gestimmt haben“, meint er. Es klingt wie Pfeifen im Walde.
Tatsächlich sitzt Südzypern als EU-Mitglied und international einzig anerkannte Inselregierung am längeren Hebel. Es kann das Tempo des Annäherungsprozesses zwischen den beiden Inselhälften bestimmen – und es spielt diese Macht voll aus. Während der reichere Süden heute von den Segnungen der Europäischen Union profitiert, hat er zugleich mit der Ablehnung des Annan-Plans dafür gesorgt, dass der ärmere Norden weiter außen vor bleibt.
So ist die Bitterkeit im Norden groß. Vor allem unter den jungen Leuten, die mehrheitlich für den Annan-Plan gestimmt haben und sich nun betrogen fühlen. Zu ihnen gehört Ayse, die – als türkisch-zypriotische Beamtin – ihren eigentlichen Namen nicht in der Zeitung lesen will. Ayse ist gut ausgebildet, klug, spricht fast perfektes Englisch und sieht in ihrem Markenkostüm sehr westlich aus. Sie klagt – „das sollte ich eigentlich gar nicht sagen“ – über ihre Regierung, die die Jugend beim Annan-Plan in eine Einheitseuphorie getrieben und verschwiegen habe, dass die ganze Sache am Süden leicht scheitern könnte.
Ayse hat weder Flucht noch Vertreibung erlebt. Dennoch erzählt sie von den schlechten Erfahrungen ihres Vaters mit Griechen, damals, im Bürgerkrieg. Eine Wiedervereinigung kann sie sich kaum vorstellen – und wenn, dann nur mit räumlicher Trennung: „Sollen die ihre eigenen Dörfer haben – aber ich will keinen griechischen Nachbarn.“
Dabei gibt es griechische Nachbarn, auch auf Nordzypern. Man findet sie auf der Karpashalbinsel, die wie ein Schwert ins Mittelmeer sticht – hier, ganz im Osten der Insel, leben noch etwa 300 griechische Zyprioten mitten unter den Türken, die meist vom Festland kommen. So ursprünglich wie die Natur auf dieser Landzunge, gegen die das Meer wütend anrennt, wirken die Menschen, die man hier trifft.
Da ist etwa Yusuf, ein vierschrötiger Mann, der vor 32 Jahren als türkischer Soldat nach Zypern kam. Er weiß, wo hier in der Gegend noch Griechen wohnen. Yusuf klopft am Haus seiner griechischen Nachbarn im Städtchen Dipkarpaz, am östlichsten Zipfel der Insel.
Die Tür öffnen Zacharias und seine Frau Erato, alte Leute, denen die Sonne die Haut dunkelbraun und faltig gebrannt hat. Ihr Haus wirkt geradezu peinlich sauber, die Fernbedienung in der Küche schützt eine Plastikfolie. Im Fernsehen sind grieselige Schwarzweißbilder orthodoxer Bischöfe zu sehen. Auf dem Fernsehgerät stehen kleine Ikonen, vor dem Bild der Enkel klemmt das Foto eines weiteren Popen.
Das Türkisch von Erato und Zacharias ist rudimentär. Sie wurden hier geboren, als fast alle Nachbarn noch Griechen waren. Vielleicht liegt es an Yusufs Gegenwart, aber die beiden sind einsilbig, wenn es darum geht, ihre Lage zu beschreiben. „Wenn es einfach wäre, würden die anderen nicht gehen“, sagt Zacharias. Seine drei erwachsenen Kinder leben im griechischen Süden, ab und zu kommen die Enkel vorbei. Erato und Zacharias haben wie fast alle Griechen hier in der Gegend keine nordzypriotische Staatsbürgerschaft – nähmen sie sie an, verlören sie ihren südzypriotischen Pass. Deshalb zahlen sie auch keine Steuern, und das mit dem Strom kommentiert Erato so: „Wir gehen ja jeden Abend früh ins Bett.“ Erato bietet Obst an, die Schale quillt fast über. Jeden Mittwoch bringen UN-Soldaten Essen, erzählt er – „UN-Bananen“, sagt sie. Und lacht.
Zacharias wirkt unruhig. Morgen, meint er, werde wohl wieder die Polizei bei ihm vorbeikommen, um zu fragen, was denn das für Besuch gewesen sei gestern. Nein, das mit dem Zusammenleben zwischen Türken und Griechen, das klappe einfach nicht gut, meinen Zacharias und Erato. „Der Frieden ist sehr schwer“, murmelt Zacharias.
„Ja, Frieden ist sehr schwer, das sagen wir auch“, sagt Yusuf. Dann verabschiedet er sich von Zacharias und Erato. Der Abschied ist gelassen und freundlich wie unter Freunden. Oder wie unter guten Nachbarn.