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Archiv-Artikel

Er gab den Chinesen, was sie brauchten

DER BRÜCKENBAUER Der Jesuit Matteo Ricci, der vor 400 Jahren starb, wird noch heute in China verehrt. Der Kartograf, Astronom und Mathematiker gilt in der Intellektuellenszene der aufstrebenden Weltmacht als herausragender Mittler zwischen Ost und West

Ricci stellte sich den kulturellen Austausch und die Mission als gegenseitiges Lernen von einem Freund vor

AUS PEKING PHILIPP GESSLER

Es ist eine seltsame Stille hier. Auf einer zwölfspurigen Trasse rauschen draußen im westlichen Stadtzentrum Pekings sekündlich Dutzende von Autos vorbei. Motoren brummen, Mopeds knattern, da und dort wird gehupt und geschimpft – doch im parkähnlichen Innenhof dieser Kaderschule der Kommunistischen Partei ist von all dem Lärm nichts mehr zu hören. Ein Gärtner mit roter Parteibinde um den Arm zupft ein wenig an einer mannshohen Hecke, ein paar Vögel zwitschern in den Bäumen, und eine 28-jährige Philosophie-Studentin mit schickem Kurzhaarschnitt schließt die Tür eines kleinen Friedhofs auf, der überall zu vermuten wäre, nur nicht hier.

Jesuit im Reich der Mitte

Es ist der „Friedhof von Matteo Ricci und anderen ausländischen Missionaren seit der Ming- und Qing-Dynastie“, so der offizielle Titel dieses nationalen Denkmals. Ausgerechnet im Innenhof der Parteischule liegen unter knapp drei Meter hohen weißen Grabsteinen, geschmückt mit steinernen Drachen, die sterblichen Überreste von 63 europäischen Jesuiten, die vom 16. bis 19. Jahrhundert ins Reich der Mitte kamen, um hier als Astronomen, Forscher und Künstler zu wirken. Und als Missionare eines Ordens, der heute in der Volksrepublik China verboten ist. Dessen prominentester Vertreter aber in diesem Jahr, genau 400 Jahre nach seinem Tod, eine gewisse Auferstehung in der chinesischen Öffentlichkeit erlebt. Es ist der Schriftsteller, Forscher und große west-östliche Brückenbauer Matteo Ricci – „Li Madou“, wie er sich auf Chinesisch nannte.

Ricci hat hier den größten Grabstein, er wurde kurz nach seinem Tod auf Geheiß des Ming-Kaisers Wan-Li (1573–1620) errichtet und jahrhundertelang in Ehren gehalten. Erst während des antiwestlichen Boxeraufstandes im Jahr 1900 wurde der Friedhof verwüstet. In der Kulturrevolution (1966–1976) vergruben geschichtsbewusste Chinesen die erhaltenen Grabsteine, um sie vor einer weiteren Zerstörung durch die Roten Garden zu schützen. Erst unter den wirtschaftsliberal orientierten Parteioberen um Deng Xiaoping kam es 1978 zu einem Wiederaufbau des Friedhofs. Li Madou konnte und sollte wieder geehrt werden, selbst hier in der Wiege zukünftiger Parteikader. Warum?

Das erklärt ein Blick auf die Biografie Li Madous: Geboren am 6. Oktober 1552, wuchs Ricci in einer alten Patrizierfamile der italienischen Stadt Macerata in den Marken auf. Der hochintelligente Junge erhielt eine gute Ausbildung von Jesuiten, die die neue intellektuelle Speerspitze der Gegenreformation waren. In Rom studierte Ricci auf Wunsch des Vaters Jura, brach das Studium aber nach zwei Jahren ab und trat dem Jesuitenorden bei. Er erhielt auf der international ausgerichteten Jesuiten-Universität Collegio Romano, einem Harvard seiner Zeit, tiefe Einblicke in die Philosophie, Astronomie, Geografie, Kartografie und nicht zuletzt in die Mathematik. Die wurde vom deutschen Gelehrten Christoph Klau (1537–1612) unterrichtet. Er galt als „Euklid des 16. Jahrhunderts“ und war ein Freund und Ratgeber des später vom Vatikan verfolgten Galileo Galilei. Ricci lernte an dieser Elite-Hochschule die neuesten Techniken zur Herstellung von Globen, Landkarten und sogar Uhren – all das sollte ihm später in China sehr helfen.

Obwohl Ricci zunächst weder Theologe noch Priester war, wurde er von den Ordensoberen für die seit Jahrhunderten brach liegende China-Mission auserkoren. Solche Aufgaben erforderten neben hoher Intelligenz eine starke Psyche und eine robuste Physis. Wer nicht auf hoher See umkam, starb nicht selten an fremden Krankheiten – oder als Märtyrer durch die Hand von Fremden, die nicht so gern missioniert werden wollten.

Riccis Reise ging zunächst über Spanien und Portugal. Seine Fahrt bis vor die Küste Chinas dauerte mit Unterbrechungen zweieinhalb Jahre bis September 1579, inklusive einem Fast-Untergang seiner Galeone. Nach einem Zwischenschritt in Goa betrat er 1582 die portugiesische Handelsstadt Macao an der Südküste Chinas, wo er Chinesisch lernte.

Erst nach 16 Jahren in anderen Städten Chinas durfte Ricci erstmals die Hauptstadt betreten, das eigentliche Ziel seiner Mission. Er musste sie zwar nach zwei Monaten wegen eines Krieges mit Korea schon wieder verlassen, konnte aber endlich 1601 nach Peking übersiedeln. Perfekt nutzte Ricci das lange Warten bis zum Eintritt in die Weltmetropole. Neben anderen Werken, die seine Hochschätzung für die chinesische Kultur zeigten, zeichnete er die erste Weltkarte in der Geschichte Chinas – mit dem Reich der Mitte in der Mitte der Erde. Er schrieb in vollendetem Chinesisch ein Buch über die Freundschaft, in dem er viele Klassiker des Abendlandes zu dieser Form der Zuneigung zitierte.

Gegenseitiges Lernen

Das Buch wurde in China sehr populär – und war eine Art Programm, wie sich Ricci einen kulturellen Austausch und die Mission vorstellte: als ein gegenseitiges Lernen von einem Freund, dessen Traditionen man schätzt. Später wurde diese Anpassung auch an die äußeren, fremden Lebensformen, lange eine umstrittene Methode der Mission, „Akkomodation“ genannt. So hatte Ricci auch kein Problem damit, sich zunächst, um seine Friedfertigkeit zu betonen, als buddhistischer Mönch zu kleiden und später in edler Seide als Gelehrter aufzutreten.

Ricci gab den Chinesen, was sie brauchten – so war er etwa an einer Übersetzung eines Buchs von Euklid beteiligt. Zudem traf er sich mit führenden chinesischen Intellektuellen seiner Zeit, diskutierte mit ihnen über philosophische und religiöse Fragen, freundete sich mit ihnen an. Einer von ihnen schwärmte über Li Madou: „Jetzt spricht er perfekt unsere Sprache, schreibt unsere Schrift und kann sich in unserer Etikette ausdrücken … In einer brodelnden Versammlung, wo die Argumente hin und her gehen, bringen die Diskussionen ihn nicht im Geringsten in Verwirrung. Unter allen Menschen, die ich erlebt habe, gibt es keinen Vergleichbaren.“

Als Geschenke für den Kaiser brachte Ricci neben wissenschaftlichen Instrumenten wie Prismen auch Musikinstrumente, etwa ein Cembalo, mit. Das Prachtstück war eine komplizierte feine Uhr, die er dem chinesischen Herrscher schenkte – und die aufzuziehen er sich, so die Überlieferung, selbst vorbehielt, was Ricci regelmäßigen Zugang zum Kaiserhof sicherte.

Nailene Chou Wiest, eine Journalistik-Professorin an der Tsinghua-Universität von Peking, sagt, während Ricci früher lediglich unter Intellektuellen ein „Superstar“ gewesen sei, erreiche er 2010 viel weitere Kreise. Zwar gab es schon 2002 in China eine Konferenz zu Ricci mit über 500 Wissenschaftlern, doch die verpuffte noch wegen Streitigkeiten zwischen dem Vatikan und Peking praktisch ohne Medienbeachtung.

In diesem Jahr aber wurden Riccis Leben und Wirken zur Titelgeschichte des populären Magazins Nanfang Renwu Zhoukan, Auflage: mehrere Hunderttausend. Laut Wiest fasziniert die Chinesen an ihm neben seiner Hingabe und Hartnäckigkeit vor allem eines: Ihr Land ist, wie zu Riccis Zeiten, eine (angehende) Weltmacht – und der neugierige und respektvolle Austausch zwischen selbstbewussten Partnern entspricht dem, was sich nicht zuletzt die Pekinger Führung vom Westen so ersehnt: einen Dialog auf Augenhöhe. Und das übrigens schon vor den Turbulenzen um den Friedensnobelpreisträger Liu Xiaobo.

Hohes Ansehen

Ähnlich argumentiert Artur Wardega. Der Jesuit ist Direktor des „Macau Ricci Institute“, eines west-östlichen Forschungsinstituts in Macau, wo, wie in Hongkong dank eines Sonderstatus, noch ein freierer Geist herrscht. Er verweist auf neu eingeweihten Ricci-Statuen und eine aufwändige Ausstellung über den italienischen Brückenbauer, die dieses Jahr in vier chinesischen Städten gezeigt wurde, darunter im Hauptstadt-Museum von Peking und in Schanghai während der Expo, wo China sich der Welt präsentierte. Wardega erinnert daran, dass „Freundschaft“ im Sinne der Parteiführung ein Schlüssel zum Bau einer „harmonischen Gesellschaft mit sozialistischen Merkmalen“ sei. Zudem wolle Peking auch heute gern eine katholische Kirche, die sich sehr der chinesischen Gesellschaft anpasse – so brav und gehorsam, wie es Ricci gegenüber dem Kaiser war.

Wie hoch Riccis Ansehen am Ende seines Lebens war, bezeugen die Umstände seiner Beerdigung nach seinem frühen Tod mit 57 Jahren 1610: Obwohl hohe Eunuchen dagegen sprachen und dies noch nie vorher akzeptiert worden war, ließ der Kaiser ihn auf kaiserlichem Grund beerdigen. Nach seinem Tod sollen 300 Glocken geläutet haben.