„In der Aufarbeitung ist noch einiges zu tun“

Die Zeit der Massenüberprüfungen ist zwar vorbei, sagt Martin Gutzeit, Landesbeauftragter für die Stasi-Unterlagen. Doch die Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit werde noch Jahre dauern. Zudem gebe es viele unerforschte Akten

taz: Herr Gutzeit, der Bundestag will heute das neue Stasi-Unterlagen-Gesetz beschließen. Danach sollen ab 2007 nur noch führende Politiker und gehobene Beamte auf eine mögliche Zusammenarbeit mit dem Ministerium für Staatssicherheit (MfS) überprüft werden. Sind für alle anderen die Stasi-Verstrickungen aufgearbeitet?

Martin Gutzeit: Wer überprüft werden sollte, ist in der Regel überprüft worden. Die Zahl der Neueinsteiger in die gehobene Verwaltung oder Politik, die belastet sein könnten, schätze ich als gering ein. Das ergibt sich ja schon durch den zeitlichen Abstand zur DDR. Wer heute neu in diesen Bereichen anfängt, ist in den meisten Fällen zu jung für Stasi-Verwicklungen.

Könnte es nicht trotzdem schwarze Schafe geben, die von dem neuen Gesetz profitieren?

Sicherlich. Es könnte der Fall auftreten, dass jemand in den höheren Dienst aufsteigt, der bisher nicht überprüft oder dessen Akte nicht erschlossen wurde. Und gerade eine Partei wie die Linke.PDS ist ein Meister im Tabubrechen. Die schicken sogar belastetes Personal in den Bundestag, wie 1998 den Rektor der Humboldt-Universität, Heinrich Fink. Seine IM-Akte wurde kürzlich zusammengesetzt – 600 Seiten!

Wie systematisch liefen bisher in Berlin die Überprüfungen von Verwaltung und Politik auf mögliche Stasi-Spitzel?

Ab 1993, nach meiner Berufung als Landesbeauftragter für die Stasi-Unterlagen, wurden rund 30.000 Lehrer, 10.000 Polizisten, 12.000 Universitätsmitarbeiter und 3.000 Künstler überprüft. Daneben gab es Untersuchungen für die gut 2.000 Beschäftigten in der Justiz und 19.000 in den Bezirksverwaltungen – im Osten und Westen Berlins.

Wie sieht die Bilanz aus?

Die Untersuchungen waren 1995, 1996 im Prinzip abgeschlossen. Knapp sechs Prozent der überprüften Personen konnte eine Zusammenarbeit mit dem MfS nachgewiesen werden. Knapp der Hälfte davon wurde gekündigt, oder sie wurden in den Vorruhestand versetzt.

Gab es Behörden oder Gruppen, die sich der Überprüfung verweigert haben?

Ich erinnere mich da noch an Hellersdorf. Das war ein Ding. Der damalige Sozialstadtrat und spätere Bürgermeister von Hellersdorf, Uwe Klett von der Linkspartei, hatte uns nicht an die Akten gelassen. Ich bin mir bis heute nicht sicher, wie gründlich dort überprüft wurde.

Sind Verwaltungen und Politik in Berlin heute „sauber“?

Ich denke, zu einem ganz überwiegenden Teil schon. Die Überprüfungen liefen ja auf einer breiten Basis. Und irgendwann muss man auch wieder Vertrauen herstellen können.

Hat denn Ihre Behörde außer der Überprüfung einiger Prominenter ab dem nächsten Jahr noch viel zu tun?

Aber ja. Zum einen rückt die politische und historische Aufarbeitung mehr und mehr in den Vordergrund. Wir beraten in Rehabilitierungsfällen, betreuen Schulklassen, machen Ausstellungen und vieles mehr. Zum anderen sollen die Akten ja weiter offen bleiben. Wir wollen mit der neuen Gesetzesnovelle keinen Schlussstrich ziehen. Die Debatten sind mit Sicherheit noch nicht zu Ende. Wir haben immer noch 60.000 Säcke mit Material, das von der Stasi 1989/1990 vorvernichtet wurde – da kann noch so manches kommen.

Aber selbst der ehemalige Bundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen, Joachim Gauck, sagte kürzlich, dass der „Bedarf an Stasi-Überprüfungen gestillt“ sei. Muss nach 16 Jahren nicht auch mal gut sein?

Es werden doch nur noch Einzelfälle geprüft. Die Zeit der Massenüberprüfungen ist vorbei.

Halten Sie die Berliner für ausreichend aufgeklärt über die DDR-Vergangenheit?

Ich denke, in der historisch-politischen Aufarbeitung ist hier noch einiges zu tun. Gerade die nachwachsenden Generationen haben oft ein unpräzises Bild von der DDR. Da kann man noch nicht sagen, dass die Geschichte aufgearbeitet wäre. Sehen Sie nur, wie viele Jahre nach der NS-Diktatur noch Debatten über diese Zeit geführt wurden. Wenn man das mit der heutigen DDR-Aufarbeitung vergleicht, befinden wir uns erst im Jahr 1962.

Interview: Konrad Litschko