„Konkurrenz ist nicht schädlich“

BILDUNGSFORSCHUNG Der Koordinator der Pisa-Studien antwortet seinen Kritikern. Goethe werde dadurch nicht überflüssig, sagt er. Und Länder ohne Pisa hinkten hinterher

■ 49, ist Internationaler Koordinator der Pisa-Studien bei der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD). Er studierte Physik in Deutschland und machte einen Abschluss in Mathematik in Australien. Gerade das deutsche Bildungssystem steht wegen seiner frühen Selektion von Schülern bei geringer Durchlässigkeit zwischen den Schularten im Fokus seiner Kritik. Die deutschen Veränderungen seit Pisa kritisierte er als zu langsam. Schleicher erhielt im Jahr 2003 den Theodor-Heuss-Preis für sein „demokratisches Engagement“.

INTERVIEW KAIJA KUTTER

taz: Herr Schleicher, über hundert Bildungsforscher fordern in einem offenen Brief ein Aussetzen von Pisa. 13 Jahre seien genug. Die Testserie schade der Bildung. Wie denken Sie über eine Pause?

Andreas Schleicher: Pisa ist ein Prozess, jeder Test ist anders. Diesen Prozess auszusetzen wäre fatal.

Der Verfasser des Briefes, der New Yorker Bildungsforscher Hans-Dieter Meyer, schreibt, die Pisa-Aufgaben seien zu einseitig auf Messbares konzentriert. Dies lenke die Aufmerksamkeit weg von nicht messbaren Zielen wie der moralischen, staatsbürgerlichen und künstlerischen Entwicklung.

Herr Meyer behauptet sogar, durch Pisa würde Bildung auf Multiple-Choice-Tests reduziert. So ist Pisa nie gewesen. Er umfasst ein differenziertes Angebot von anspruchsvollen Aufgaben. Es geht nicht um Fertigwissen, sondern darum, ob die Schüler mit ihrem Wissen etwas anfangen können. Und es geht auch um Basiskompetenzen. Schüler, die die bei Pisa geforderten Kompetenzen nicht beherrschen, haben im Sozial- und Arbeitsleben wenig Chancen.

Das klingt sehr absolut.

Natürlich testen wir nicht alles, aber wir entwickeln die Testreihe kontinuierlich weiter. 2015 werden wir auch die sozialen Kompetenzen erfassen. 2018 geht es um globale Kompetenzen und die Fähigkeit, sich in einer komplexen Welt zurechtzufinden.

Wie testet man soziale Kompetenz?

Indem Schüler gemeinsam ein Problem lösen müssen, etwa eine Rakete zum Mond fliegen zu lassen. Da muss sich einer um den Treibstoff kümmern, einer um den Motor und so weiter. Jeder Schüler hat eine andere Aufgabe für das gemeinsame Projekt.

Die Kritiker warnen, der Test werde zum Lehrplan. Mann und Goethe würden verschwinden, weil sie bei Pisa nicht getestet werden.

Dafür gibt es keinen Anhaltspunkt. Die Bildungspläne, die in Deutschland nach Pisa entwickelt wurden, gehen in die Tiefe. Da geht es auch um Goethe und wichtige Kulturkompetenzen.

Was hat Pisa Ihrer Ansicht nach in Deutschland bewirkt?

Pisa hat den Blick nicht verengt, sondern erweitert. Beim Thema Chancengerechtigkeit zum Beispiel. Dass in Deutschland der Bildungserfolg vom Elternhaus abhängt, hat die Wissenschaft zwar schon vor Pisa 2001 gewusst. Aber erst im Pisa-Vergleich hat sich gezeigt, dass der Zusammenhang nicht überall so hoch ist. Länder wie Finnland und Kanada machten vor, wie erfolgreich sie mit individueller Förderung sein können.

Aber hat sich nach Pisa tatsächlich etwas verändert?

Hier hat sich vieles zum Positiven entwickelt. Das Leistungsgefälle zwischen Schülern mit und ohne Migrationshintergrund hat sich seit 2001 halbiert. Schüler mit Migrationshintergrund haben sich verbessert, dadurch ist das Leistungsniveau insgesamt gestiegen. Das hat auch damit zu tun, dass Kinder heute besser gefördert werden. Zum Beispiel in der frühkindlichen Bildung. Nach Pisa hat sich durchgesetzt, dass wir auch für kleine Kinder hochqualifizierte Bildungsangebote brauchen.

Im Vergleich zu 2001 machen heute auch viel mehr Schüler das Abitur. Da wird allerdings schon wieder die Sorge laut, dass das Abitur bald nichts mehr wert sein könnte.

Wenn die Leute sagen, das Abi ist weniger wert, weil es mehr Menschen machen, liegt dem die Vorstellung zugrunde, bei Bildung gehe es um Selektion. Vor 100 Jahren hätte man wahrscheinlich diskutiert, ob alle Kinder zur Grundschule müssen oder ob nicht die Hälfte reicht. Dabei gibt es Länder, in denen auch Schüler ohne Abi im Schnitt so gut abschneiden wie in Deutschland die Abiturienten. Für die Behauptung, dass Abitur verliere an Wert, gibt es jedenfalls keinen empirischen Beweis.

Warum brauchen wir noch mehr Pisa-Studien?

Wir müssen immer wieder schauen, wo wir besser werden können.

Was kostet die Teilnahme?

Die internationalen Beiträge richten sich nach der Wirtschaftskraft eines Landes. Los geht es bei etwa 56.000 Euro. Davon kann man in Deutschland nicht mal einen Lehrer einstellen. Dieses Geld könnte man nicht besser investieren. Denn man bekommt dafür einen unglaublichen Entwicklungsgewinn. Brasilien war 2001 das schwächste Pisa-Land. Die Hälfte der 15-Jährigen ging damals gar nicht in die Schule. Pisa hat dort enorm viel in Bewegung gesetzt. Die Zahl der Kinder, die nicht zur Schule gehen, hat sich halbiert. Heute ist Brasilien das Land mit der am stärksten wachsenden Leistung.

Jetzt wollen Sie die Tests auf Afrika und andere Länder Lateinamerikas ausweiten. Ist das bildungspolitischer Kolonialismus?

Wir weiten gar nichts aus. Viele lateinamerikanische Länder sagen, wir wollen an internationalen Vergleichen teilnehmen. Das ist freiwillig.

Die Pisa-Kritiker zweifeln die Länder-Rankings an. In Schanghai, wo die Schüler beim letzten Mal am besten abschnitten, hätten Schulleiter die Schüler auf den Test getrimmt.

Da ist nichts dran. Von dem, was Kinder aus bildungsfernen Schichten in Schanghai lernen, können wir uns eine Scheibe abschneiden. Da ist das Kind einer Reinigungskraft in Mathematik so gut wie in Deutschland das Kind eines Professors.

Durch die Länder-Rankings bekommt Pisa aber einen Wettbewerbscharakter. Wäre die Studie ohne Rankings denkbar?

Ein Pisa-Bericht umfasst 900 Seiten und hat viele Dimensionen. Um Kernergebnisse zu kommunizieren, ist ein Ranking der Mittelwerte in Ordnung. Insgesamt ist es aber nur begrenzt aussagefähig.

Aber das erzeugt ja in der Tat stetigen Druck. Kann man nicht mal sagen: Die Kinder haben gut genug gelernt?

Diese Haltung hat Frankreich bei Pisa 2001 eingenommen. Zehn Jahre später ist Frankreich deutlich schlechter, weil sich alle anderen verbessert haben. Heute ist dort die Jugendarbeitslosigkeit auch hoch. Wir leben in einer Welt, in der es für die gesellschaftliche Teilhabe erforderlich ist, die kognitiven, emotionalen und sozialen Kompetenzen weiterzuentwickeln. Und wir wissen, dass sich Konkurrenz und Leistungsstärke nicht schädlich auf den einzelnen Schüler auswirken, solange der Lehrer sich Zeit für sie nimmt.

Werden Sie den Kritikern ein Gespräch anbieten?

Die Kritik ist an vielen Stellen sachlich falsch, was darauf deutet, dass sich die Kritiker nur oberflächlich mit Pisa beschäftigt haben. Es stimmt etwa nicht, dass wir mit Industriekonzernen kooperieren. Aber wir sind immer offen für Gespräche.