Macht Weihnachten die Familie kaputt?
Ja

HöLLE Die ganze Sippe hockt tagelang auf engstem Raum aufeinander und alle versuchen, die Marotten der anderen zu ertragen. Eine explosive Situation

Helmut Kury, 69, Psychologe, leitete das Kriminologische Institut Niedersachsen

Weihnachten ist das Fest mit der größten Emotionalität überhaupt. Es steht für Frieden und Seligkeit. Doch viele Familien können nicht damit umgehen, dass sie für mehrere Tage in die gemeinsame Häuslichkeit zurückgeworfen werden. So können vorhandene, im Alltag verdrängte Konflikte auflodern. Da gerade an den Festtagen oft viel Alkohol im Spiel ist, kann der Streit schnell eskalieren, es kann zu verbalen oder körperlichen Attacken kommen. Zu Weihnachten häufen sich die Fälle häuslicher Gewalt. Viele Beratungsstellen richten darum während der Feiertage extra Notrufdienste ein. Doch leider werden diese oft gar nicht wahrgenommen – die Dunkelziffer für Gewalt in der Familie ist zu Weihnachten vermutlich noch höher als sonst. Denn die Angehörigen schämen sich, dass sie ausgerechnet zum Fest der Liebe in eine Krise geraten. Es sind vor allem Frauen, die mit dem Notdienst Kontakt aufnehmen. Viele Männer verdrängen die Probleme und sperren sich gegen eine Therapie oder Beratung.

Colin Kehrer, 33, ist Paartherapeut und hat eine Praxis für Psychotherapie in Berlin

Oft sind es Kleinigkeiten: Der neue Freund der Tochter stellt sich der Oma nicht vor und isst vor der Bescherung das halbe Plätzchengedeck auf. Der Vater klebt vor dem Fernsehen. Die Geschenke werfen unangenehme Fragen auf. Dass es zum Fest zwischen Paaren und in Familien richtig kracht, kommt leider allzu häufig vor. Im Januar sind Paartherapeuten dann mit den Nachwirkungen der Festtage beschäftigt. Neben Spannungen mit Eltern sind am häufigsten zu hohe und zu spezifische Erwartungen das Problem. Gerade in der Art, die Festtage zu begehen, haben wir alle eine starke familiäre Prägung. Wenn sich die Vorstellungen zu sehr unterscheiden, kann das Streit nach sich ziehen. Erzählen Sie dem Partner ruhig, was Ihnen das Fest bedeutet und welche Rituale Ihnen wichtig sind, aber seien Sie bereit, auch davon abzuweichen.

Natalie Krahé, 39, ist Diplompsychologin und leitet eine Coaching-Praxis

Die Großfamilie von einst und ein entspanntes Fest, bei dem sich mehrere Generationen wohlfühlen, sind seltener geworden. Stattdessen suchen Patchworkfamilien, Singles, kinderlose Paare alternative Formen, Weihnachten zu feiern. Dabei entwickeln sich neue Traditionen. Doch das hat ein hohes Konfliktpotenzial, wenn die Ursprungsfamilie dafür kein Verständnis aufbringt. Doch das muss nicht sein. Wir können heute Rituale nach unseren Wünschen gestalten. Jede/r kann sich fragen, mit wem und wie er Weihnachten verbringen will. Die Antwort kann heute auch lauten: „mit Freunden unter Palmen“. Durch diese Freiheit gewinnen wir ein Stück der ursprünglichen Idee zurück.

Martina Schmitz, 47, Verband autonomer Frauenberatungsstellen NRW

„Was mache ich falsch, wenn an Heiligabend Streit aufkommt?“, fragen sich viele Frauen in ihrer Familie. Unserer Erfahrung nach sind es aber oft die Partner, die sich dies fragen müssten. Gerade wenn alle beisammen sind, wollen Männer ihren gefühlten Status als Oberhaupt der Familie verteidigen. Weihnachten soll so ablaufen, wie er es will. Wenn Frauen an diesem Punkt weiterhin die Schuld bei sich selbst suchen, kann das den Partner noch mehr provozieren – sie geraten in eine verheerende Sackgasse. Die verbale und physische Gewaltspirale nimmt ihren Lauf, mit traumatisierenden Folgen für Mutter, Kinder und den Mann selbst. Wir Mitarbeiterinnen der Frauenberatungsstellen weisen auf Warnsignale hin, die der häuslichen Gewalt vorausgehen. Zum Beispiel, wenn der Partner zu hohe Erwartungen hat, zu schnell zu viel will.

nein

Pia Maria Castro, 38, ist Journalistin. Cem Özdemir ist mit ihr verheiratet

Stressige Zeiten sind es wirklich nicht. Die Hälfte unserer Familie fällt weg, weil sie Muslime sind. Was gekocht wird, wo gefeiert wird, existiert nicht als mögliches Problem. Der andere Teil, der katholisch-südamerikanische Zweig, feiert so rauschend, dass es meinem aus dem pietistischen Bad Urach stammenden Mann manchmal zu bunt wird. Die argentinische Geschenkorgie fällt dieses Jahr aus, dank Job in Berlin. Dafür bekomme ich den vollen Arbeitsstress und mein Mann, der säkulare Muslim, kümmert sich um Baum, Schmuck und Geschenke. Bei meinem schwäbisch geprägten Mann bin ich sicher, dass es kein verschwenderisches Gelage werden wird. Wir feiern zu Hause in Berlin-Kreuzberg mit unserem Nachbarn und ein wenig Sehnsucht nach der Wärme und den leicht bekleideten Menschen auf den Straßen von Buenos Aires. Die tausend Küsse der Tanten nicht zu vergessen. Es fasziniert mich, wie viele muslimische Bekannte meines Mannes mir zu Weihnachten gratulieren. Interessanterweise eher die Religiösen und Konservativen. Allen Feliz Navidad!

Frank Schöbel, 68, ist Schlagerstar und am 24. Dezember Weihnachtsmann im MDR

Nein, das geht auch Ostern. Wenn ja, dann ist die Familie ohnehin schon kaputt und das Fest nur der Anlass. Man spielt sich jahrelang gegenseitig Harmonie vor, Probleme werden verdrängt, nicht ausgesprochen. Mutter hat bis zum letzten Augenblick geackert, steht voll im Stress, ist dazu noch erkältet, und es braucht nur ein falsches Wort und zack kommt’s zum Streit. In der Ehe, in der Familie. Als Mitteldeutscher Weihnachtsmann wünsche ich mir, dass sich alle gerade an diesem Tag herzlich und zutiefst menschlich begegnen.

Mo Asumang, 47, ist Moderatorin, Schauspielerin und Filmproduzentin

In meinem Fall funktionierte die Streitfrage lange genau umgekehrt: kaputte Familie, die Weihnachten macht. Mein erstes Fest verbrachte ich im Laufställchen in einem Kinderheim. Denn meine alleinerziehende Mutter musste arbeiten. Ich kann mich nicht erinnern, ob es zur Feier des Tages Flüssiglebkuchen mit Honig aus Babyfläschchen gab oder ob ein kleines Geschenk, ein Plüschtier, über mir baumelte. Ich erinnere mich gut an spätere Weihnachtsfeste bei Pflegeeltern oder der Oma, bei denen ich als Ausgleich für meine verpatzte Familiengeschichte ordentlich mit Geschenken eingedeckt wurde. Meiner Mutter habe ich wegen meiner Kindheit oft Vorwürfe gemacht, aber nie zu Weihnachten, denn das war heilig, ganz tief drin heilig. Heute bin ich sehr glücklich darüber, dass sie und ich trotz allem das Ritual aufrechterhalten haben. Am 24. sitzen wir einfach zusammen und reden. Ohne Geschenke. Zwei Frauen – und das größte Geschenk ist der Friede in mir.

Dietmar Bittrich, 52, hat das „Weihnachtshasser-Buch“ geschrieben

Jesus selbst hat es nicht geschafft. Sein Fest schafft es erst recht nicht. Jesus wollte schon als Zwölfjähriger mit den Eltern nichts mehr zu tun haben. So steht es bei Lukas. Er blieb von der Familie genervt bis ans Ende. „Frau, weint nicht“, herrschte er seine Mutter an, als die am Kreuz Tränen vergoss. Er wünschte sich, dass „jeder um meinetwillen Haus, Brüder, Schwester, Mutter, Vater, Kinder verlässt“. Außer ein paar Einsiedlern und schwulen Mönchen hat keiner gehorcht. Warum? Weil Ideologie nie stärker sein kann als Biologie. Die Sippe ist in die Gene graviert. Mag sein, dass Heiligabend jemand Brüder, Schwester, Mutter, Vater, Kinder verlässt, aber nur um Zigaretten zu holen – oder eine neue Familie zu gründen. Sorry, Jesus! Mit dem Frieden auf Erden hat es nicht geklappt. Mit der Auflösung der Familie auch nicht. Die ist unkaputtbar.