Warte mit dem Staub auf mich

Warte mit dem Staub auf mich

von Liu Xiaobo

(Für meine Frau, die auf mich wartet)

Es bleibt dir nichts übrig,als mit dem Staub auf mich zu warten.Schicht um Schichtfüllt er die Ecken.Du lässt die Vorhänge zu.Die Sonne soll den Staub nicht stören.Auf den Bücherregalen verschwinden die Zeichen im Staub,die Muster im Teppich, vom Staub vollgesogen.Wenn du mir schreibst,tauchst du den Stift gern in den Staub,die Staubkörner stechen dann in meinen Augen.Du sitzt den ganzen Tag daund willst nicht umhergehen,damit deine Füße den Staub nicht verletzen.Du atmest ganz ruhig,schreibst mit deinem Schweigen eine Geschichtein dieser erstickenden Zeit.Nur der Staub bleibt dir noch treu.Der Staub erfülltdir den Blick, den Atem, die Zeit.In deiner Seelebaut er Tag um Tag ein Grab,Zoll um Zoll,angefangen bei den Füßenbis zur Brust und bis zur Kehle.Du weißt, das Grabist deine beste Zuflucht.Niemand stört dich,wenn du dort auf mich wartest.Du hast eben eine besondere Beziehung zum Staubin der Dunkelheit in der erstickenden Stille,warte, bitte, wart auf mich.Warte auf mich mit dem Staub,verweigre die Sonne, die Strömung der Luft,bis der Staub dich ganz begräbt.Lass dich einschlafen im Staub,bis du erwachst,wenn ich zurück bin,wischt du den Staub von der Haut, von der Seeleund stehst auf wie durch ein Wunder.Wir drucken dieses Gedicht, weil der Nobelpreisträger Liu Xiaobo heute seinen 55. Geburtstag in einem chinesischen Gefängnis erlebt. Er schrieb es am 9. April 1999, der österreichische Autor und Übersetzer Martin Winter hat es zum aktuellen Anlass ins Deutsche übertragen. Winter ist einer der Übersetzer der Liu-Xiaobo-Biografie von Bei Ling: „Der Freiheit geopfert“.