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Archiv-Artikel

Muss man Angst um Frankreich haben?JA

EUROPAWAHL Der rechtsextreme Front National bekam in Frankreich 25 Prozent der Wählerstimmen – und wurde damit stärkste Partei

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Alfred Grosser, 89, ist französischer Publizist, Soziologe und Politikwissenschaftler

Der politische und gesellschaftliche Zustand Frankreichs ist desolat. Der Präsident wurde noch nie so sehr abgelehnt wie heute. Das Parteiensystem liegt in Trümmern. Marine Le Pen gibt sich gemäßigt, aber ihr Front National darf wohl als extrem rechts bezeichnet werden. Die konservative UMP ist von inneren Streitigkeiten, von Orientierungslosigkeit und Skandalen so geschwächt, dass sie wenigstens vorläufig keine Alternative zu den Sozialisten bietet. Diese sind seit den Gemeindewahlen, bei denen sie viele Rathäuser verloren haben, am Boden zerstört. Der Präsident hat sich als positiver Sozialdemokrat entpuppt, doch für viele Sozialisten ist Sozialdemokrat noch ein Schimpfwort. Die Arbeitslosigkeit zersetzt die Gesellschaft und die meisten Berufsstände kämpfen nur für ihr Eigeninteresse. Aber, und das muss man auch sagen: Es hat schon schlimmere Zeiten gegeben.

Mal Élevé, 31, ist Sänger in der deutsch-französischen Reggae-Band Irie Révoltés

Der Sieg des Front National ist sehr gefährlich und markiert den vorläufigen Höhepunkt des Rechtsrucks in der französischen Gesellschaft. Dieser zeigte sich unter anderem in den Massendemonstrationen gegen die gleichgeschlechtliche Ehe, den Hetzkampagnen gegen Sinti und Roma, den rassistischen Beleidigungen gegenüber der Ministerin Christiane Taubira und den rechten Übergriffen, die immer häufiger werden und wie im Juni 2013 bei Clement Méric tödlich enden können. Bisher war Frankreich mit seiner anderen Auffassung von Staatsbürgerschaft ein Gegenpol zu Deutschlands verklärtem „Abstammungsrecht“ und rigider Einbürgerungspolitik. Aber die Sarkozy-Ära hat Rassismus und Xenophobie wieder salonfähig gemacht. Populismus, Rassismus und erzkonservatives Denken sind in ganz Europa der neue Trend.

Jeremy Corbyn, 65, sitzt seit 1983 für die Labour Party im britischen ParlamentMarine Le Pen steht für alles Schlechte und Niederträchtige: eine Politik ohne Hoffnung, ohne Inspiration, ohne Lösungen – aber mit abscheulichen Vorurteilen und einem Nationalismus, der sich selbst zugrunde richtet. Leider hat die französische Regierung mit ihren Sparprogrammen Platz für Le Pen geschaffen – für das Arbeitermilieu in Frankreich gibt es wenig Alternativen. Wir brauchen eine paneuropäische Opposition, die der neoliberalen Politik der Europäischen Zentralbank etwas entgegensetzt und zeigt, dass europäische Lebensstandards durch Migration steigen.

Bernard-Henri Lévy, 65, ist französischer Journalist, Publizist und Philosoph

Sicher, es gibt Grund, beunruhigt zu sein. Die Wähler des Front National sind nicht einfach Protestwähler. Keine Verzweifelten, die eine „Abmahnung“ oder ein „Signal“ an die Regierungsparteien senden. Sie sind oft sehr belesen. Männer und Frauen, die ganz genau wissen, was sie tun. Nationalisten. Populisten. Bereit, sich von den lockenden Stimmen ausländerfeindlicher Sirenen verführen zu lassen. Bereit, mit Marine Le Pen – dieser Freundin von Putin und Baschar al-Assad – zu paktieren. Mit dieser Aufrührerin, deren Antisemitismus (sogar) der Rest der extremen Rechten in Europa fürchtet. Aber auf der anderen Seite gibt es die Gruppe derjenigen, die – ob sie nun rechts sind oder links – noch an Europa glauben und wissen, dass dieses Europa der einzige Raum ist, in dem die Ausübung der Demokratie im 21. Jahrhundert möglich ist.

NEIN

Pascale Hugues, 55, ist Journalistin und Buchautorin. Sie lebt in Berlin

„Angst“ ist ein großes, sehr deutsches Wort. Viel zu groß für den kleinkarierten Front National. 26 Prozent von den 42 Prozent, die am Sonntag abgestimmt haben, haben die Rechtsextremen gewählt. Das ist nicht einmal annähernd die Mehrheit der Franzosen. Bei den Europawahlen, die in der Mitte der präsidialen Amtsperiode stattfinden, können die Menschen ihre Frustration explodieren lassen, ohne Risiken einzugehen. Frankreich zeigt sich gerade ausländerfeindlich, ultranationalistisch und antieuropäisch. Es ist egoistisch und intolerant. Es wird von einer politischen Klasse regiert, die sich durch ihre „affaires“ und ihre Reformunfähigkeit selbst diskreditiert hat. Ich bin empört. Ich bin enttäuscht. Und ich schäme mich. Doch ich habe keine Angst. Nur eine Hoffnung: dass der europäische Schock – all die erschrockenen Blicke unserer Nachbarn – auch eine Zäsur markiert.

Andreas Schockenhoff, 57, CDU, leitet die Deutsch-Französische Parlamentariergruppe

Nein! Der verstörende Wahlerfolg des rechtsextremen Front National ist Ausdruck einer innerfranzösischen Krise infolge der stagnierenden Wirtschaft. Der Versuch der regierenden Sozialisten, die Probleme unter den Tisch zu kehren, ist gescheitert. Aber auch die Bürgerlichen müssen nun konstruktive Lösungen präsentieren. Zentraler Bestandteil wird dabei Europa sein. Frankreich ist tief in die europäischen Strukturen verwoben und übernimmt an vielen Stellen Verantwortung für unsere Selbstbehauptung und Sicherheit. Sozialisten und Bürgerliche brauchen Mut, um energischer für den Wert Europas einzustehen. Dann wird Frankreich – und Europa – gestärkt aus dieser Krise kommen.

Hans Stark, 52, ist Professor für Deutschlandstudien an der Universität Sorbonne

Der unerwartet hohe Wahlsieg des Front National, das schwache Abschneiden der bürgerlichen Rechten und das katastrophale Ergebnis der Sozialisten haben Frankreich in einen Schockzustand versetzt. Es herrschen aber keine italienischen Verhältnisse. Die Regierungsmehrheit in Parlament und Senat ist stabil. Bis zu den nächsten Wahlen im Frühjahr 2017 ist mit keinem Machtwechsel zu rechnen. Doch langfristig stehen die Zeichen auf Sturm. Deindustrialisierung, Massenarbeitslosigkeit, Europaskepsis und eine seltsame Mischung aus Selbstüberschätzung und Minderwertigkeitskomplexen stellen eine explosive Gemengelage dar. Das mindert die Reformbereitschaft erheblich. Die Spaltung der Regierungspartei in zwei Lager und die Schwäche der bürgerlichen Rechten verstärken diese Entwicklung. All dies nützt Marine Le Pen.

Norbert Sanftmann, 33, ist Volkswirt und hat unseren Streit per Mail kommentiert

Das französische Wahlrecht kennt im Gegensatz zur Europawahl eine hohe Schutzmauer, um den Einzug von Extremisten zu verhindern: Im ersten Wahlgang muss ein Kandidat mit absoluter Mehrheit gewinnen – sonst kommt es zur Stichwahl. Die Machtergreifung des Front National wäre also nur möglich, wenn sich die demokratischen Parteien gegenseitig zerfleischen. Marine Le Pens Vater gelang es 2002 bei der Präsidentschaftswahl in die Stichwahl einzuziehen. Er holte mit 17,8 Prozent aber nur marginal mehr als im ersten Wahlgang. Sorgen sollten wir uns trotzdem: Eine schärfere Sparpolitik könnte ein Elend wie in Griechenland hervorrufen. Kein Deich könnte dann der braunen Flut standhalten.