: The High Life
STELLDICHEIN Die Geschichte von einem, der sich auf einem englischen Literaturfestival das Gerede der Hedonisten anhörte und sich seinen Teil dazu dachte
■ Stationen: Hodgkinson, Jahrgang 1968, ist Herausgeber der Zeitschrift The Idler („Der Müßiggänger“) und Autor des Bestsellers „Anleitung zum Müßiggang“ und der Bücher „Die Kunst, frei zu sein“ und „Leitfaden für faule Eltern“ (Rogner & Bernhard). Er schreibt für den Daily Telegraph eine Kolumne über das Elterndasein und arbeitet als Journalist. Hodgkinson lebt mit seiner Frau und seinen drei Kindern auf einer Farm in Devon.
■ Silvester: „Wie feiern Sie? – „Leider waren meine Frau Victoria und ich im letzten Jahr ziemlich langweilig – wir gingen schon um viertel vor zwölf ins Bett! In diesem Jahr haben wir ein paar Freunde auf unsere Farm eingeladen, die ein paar Tage bleiben. Wir werden Fasan essen und eine Menge Bier und Wein trinken. Dann werden wir Klavier und Ukulele spielen. Aber natürlich werden wir nicht die Nacht durchmachen wie früher.“ Foto: privat
VON TOM HODGKINSON
Wo bist du denn gestern abgeblieben?“ „Ich bin rauf zum Haus gegangen. Es gab eine kleine Cocktailparty.“ „Kleine Cocktailparty? Wann bist du zurückgekommen?“ „Keine Ahnung, Paul. Als es hell wurde, glaub ich. Ich bin müde.“ Paul Silver, Autor, 38 Jahre alt, starrte an die Decke des Igluzelts. Neben ihm, inmitten eines Durcheinanders aus Luftmatratzen und Schlafsäcken, schliefen drei kleine Kinder. Paul hatte Kopfschmerzen, und die morgendliche Hitze im Zelt ließ ihn schwitzen. Er verfluchte den Wodka-Orange, den er am Abend zuvor getrunken hatte, auf einem Campingstuhl im Vorzelt sitzend, allein.
Paul und Polly Silver campten auf dem Bumbling Literatur Festival. Paul hatte im großen Zelt vor achtzehn Zuhörern einen Vortrag gehalten: „Ökonomisches Denken im Mittelalter“. Abends hatte er sich bereit erklärt, den Babysitterdienst zu übernehmen. Damit sich Polly auch mal endlich auf dem Festival amüsieren konnte. „Ich habe überhaupt nichts mitbekommen bis jetzt“, hatte sie sich beschwert. „Noch kein einziges Erwachsenengespräch geführt.“ Also hatte Paul vor dem Zelt gesessen, während die Kinder schliefen, hatte Wodka getrunken, Selbergedrehte geraucht und gehofft, dass ein Freund vorbeikäme, während Polly es sich gutgehen ließ.
„Mit wem hast du dich denn so lang unterhalten?“, fragte Paul.
„Alle möglichen Leute … Talulah, Vici“, antwortete Polly.
„Vici? Scheiße.“
Vici war über sechzig, Journalist, der von einem üppigen Privatvermögen lebte. Sein Vater war mit Kasinos reich geworden. Vici war berühmt dafür, sich niemals die Mühe zu machen, Rechnungen für seine Artikel zu schicken. Er überwinterte in Hawaii, verbrachte die Sommer in Monte Carlo und flog mit einer Pilatus-Maschine in Europa herum, um Partys zu besuchen. In der rechten britischen Wochenzeitung The New Nation, die von gut 30.000 Landbesitzern, Bankiers, Managern und Abgeordneten gelesen wurde, hatte er eine Kolumne, in der sich über „Mein Leben“ ausließ. Die Formel war denkbar einfach: Mal schrieb er über seine Ausschweifungen. Dann ließ er die Namen von Aristokraten, Mitgliedern europäischer Königshäuser und in den Adelsstand erhobenen Kapitalisten fallen und gab mit nächtlichen Partys in den Villen von Kaufhausmilliardären an, mit tagelangen Trinkgelagen und Pokerspielen. Vici war für seinen Kokainkonsum bekannt. Eines seiner Lieblingsthemen war die Jagd nach jungen Mädchen. Manchmal veröffentlichte er Listen, auf denen er seine Wertungen notierte: „Beste Beine: Damson Treacle. Am schönsten: Bunty Goldsmith.“ Es gab, zugegebenermaßen, Hinweise auf Selbstironie in seinen Texten. Dann wieder schlug er einen seriöseren Ton an und informierte seine Leserschaft darüber, dass die Unterschicht in völlige Abhängigkeit von staatlichen Leistungen geraten sei und dringend wieder am Erwerbsleben teilnehmen müsse. Das wäre die beste Prävention für ungewollte Teenagerschwangerschaften, Komasaufen und Drogenabhängigkeit. Er kündigte an, Spenden für das „Centre for Social Inclusion“ sammeln zu wollen. Dieser einschlägige Thinktank hatte einen Maßnahmenkatalog entwickelt, um die Nutzlosen und Arbeitsscheuen aus der Abhängigkeit von Transferleistungen zu befreien und wieder in Vollbeschäftigung zu bringen, worin jene einen neuen Sinn finden und fortan sogar einen ökonomischen Beitrag für ihr Land leisten könnten. Auf diese Art verband Vici Vernügen und Philanthropie, so sah er es zumindest. Und manchmal harmonisierten diese unterschiedlichen Interessen auf befriedigende Weise.
Für Paul jedoch war er nur ein amoralischer Hedonist. Ein scheinheiliger Typ, der noch dazu ein übersteigertes Selbstbewusstsein besaß. Jene moderne Tugend, die sowieso vollkommen überbewertet war.
„Ich fand ihn ehrlich gesagt ziemlich charmant. Er hat mein Knie gestreichelt und mir gesagt, ich hätte wunderbar weiche Haut.“
„Er hat dein Knie gestreichelt? Du weißt schon, dass er der bekannteste Lustgreis Großbritanniens ist?“
„So war das aber nicht. Alle waren auf E.“
„Auf E? Warst nicht du diejenige, die mir diese Droge untersagt hat? Und jetzt nimmst du das selber! Und flirtest mit alten Junkies, während ich brav auf die Kinder aufpasse! So eine Scheiße, das gibt’s doch wohl nicht.“
„Bitte keine Fäkalsprache.“
„Jetzt wird sie auch noch moralisch. Du bist doch diejenige, die sich von einem schmierigen alten Sack ohne jede Moral Drogen einflößen lässt.“
„Ich bin diejenige, Paul, die sich seit fünf Jahren um deine Kinder gekümmert hat, in einem finsteren Bauernhaus sitzend, während du Spritztouren nach London machst.“
„Die Reisen sind wichtig für meine Arbeit. Ich nehme kein E und lasse mich auch nicht von alten Männern auf Koks betatschen. Das ist nur eklig. Hast du schon mal was von Holly Golightly gehört? Wie alt sind diese Leute überhaupt?“
„Vici ist an die siebzig. Und Talulah Bumbling dürfte Mitte fünfzig sein.“
„Scheiße.“
„Bitte keine Fäkalsprache.“
Talulah Bumbling hatte das Bumbling Literatur Festival vor drei Jahren gegründet. Sie bildete sich ein, die Lady Ottoline Morrell für das dritte Jahrtausend zu sein, eine zeitgenössische Salonière. Ihr Ehemann, Lord Bumbling, machte siebzig Stunden die Woche in Hedgefonds, um die Mittel zu erwirtschaften, die nötig waren, um Bumbling Manor vor dem Verfall zu bewahren. Das Anwesen hatten die Bumblings von Henry VIII. erhalten, für ihre Dienste bei der Verfolgung der Papisten während der Reformation. Dieser Umstand verschaffte Lady Bumbling sehr viel Zeit, um ihre Karriere als Gastgeberin literarischer Abende zu verfolgen, was sie mit einigem Charme und unter stetiger Zuhilfenahme bewusstseinsverändernder Substanzen tat. Sie sah sich und ihren Zirkel freigestellt von den Obliegenheiten kleinlicher Moral, und deswegen tendierten ihre Salons und Soireen dazu, drogengeschwängerte Angelegenheiten zu sein. Drogen zu nehmen war für Lady Bumbling ein Zeichen von Freiheit. Hedonismus hieß, sich von bürgerlichen Zwängen zu befreien.
Paul erinnerte sich daran, wie er Lady Bumbling zum ersten Mal getroffen hatte. Es war bei einem Empfang anlässlich der Veröffentlichung von Toby Knights Buch „Schindluder Schabernack: Eine kurze Geschichte des Spaßes“, der in der obersten Etage des Verlagshauses am Londoner Strand stattfand. Sein Freund Toby hatte ihn Talulah vorgestellt. Allem Anschein nach und schmeichelhafterweise hatte sie Pauls Buch „Die Gier-Krankheit: Wie Sie alles loswerden und ein freies Leben führen“ gelesen.
„Ganz toll fand ich das“, gurrte sie. „Wirklich sehr intelligent. Konsumkritik und so weiter, das finde ich sehr gut. Sie müssen nach Bumbling kommen. Wir machen ein kleines Literaturfestival dort. Alle zelten. Das macht großen Spaß.“ Mit diesen Worten lüpfte sie ihren Rocksaum und zog eine kleine weiße Pille aus ihrem Seidenstrumpf. Sie steckte sie schnell in ihren Mund, zwinkerte Paul zu und sagte: „Sie müssen kommen!“
Jetzt, in Bumbling, kletterte Paul aus seinem Zelt. Er blickte über den vom Tau noch feuchten Rasen. In der Ferne lag Bumbling Manor, ein gedrungenes graues Gebäude mit einem runden Turm an der Ostseite, über ihm der morgendliche Nebel. Er hörte den Krähen zu, die ihre unangenehmen Krächzlaute von sich gaben. Teile des Gutshauses waren aus dem dreizehnten Jahrhundert, damals war das Gebäude ein Benediktinerkloster gewesen. Sir John Soane hatte eine Bibliothek anbauen lassen und einige Oberlichter aus Buntglas hinzugefügt. Paul dachte an die Mönche, wie sie ihre Stimmen zum Himmel erhoben und „Adoro te“ sangen. Hinter dem Haus konnte er die Spitze des Kirchturms sehen. Er nahm seine Fünf-Liter-Plastikflasche und ging zum öffentlichen Wasserhahn hinüber, um sie aufzufüllen. Dabei sah er sich die Zelte an. Es dürften an die zweihundert gewesen sein: Iglus, große Familienzelte, ein paar Tipis, zwei Jurten. Die Tipis und Jurten wurden für mehrere tausend Pfund pro Nacht an wohlhabende Festivalbesucher vermietet. Vor einigen Zelten sah es wüst aus: Leere Plastiktüten, Bierdosen, weggeworfene Weinkartons, umgeworfene Campingstühle, dazwischen ein Einweggrill. Vor anderen war es aufgeräumt und sauber. Ihre Besitzer gaben mit Rosten an, die von schmiedeeisernen Dreibeinern gehalten wurden. Solche Camps waren gern auch mit Flaggentuch von Martha Murray dekoriert, einer Ladenkette, die romantische Krüge und blumige Tischtücher im Stil der Dreißiger verkaufte, die Martha Murray wiederum kürzlich für knappe 72 Millionen Pfund verkauft hatte. Martha Murray selbst hatte sich sogar an diesem Wochenende eine Jurte gemietet. Seltsam, dachte Paul, wie die kostengünstige Wohnkultur nomadischer Völker zu einem Statussymbol auf englischen Literaturfestivals geworden war. Es gab nur eine Art der Übernachtung, die in Bumbling einen höheren Status als eine Jurte besaß, und das war ein „Zimmer im Haus“. Zimmer im Haus wurden für all jene reserviert, die von den Bumblings als „Freunde und Familie“ bezeichnet wurden, in Wirklichkeit und in der Regel aber weder Freunde noch Verwandte waren, sondern die Reichen und Berühmten. Die sehr Reichen erhielten dazu noch eine unbegrenzte Anzahl von Freikarten.
Paul kehrte zu seinem Camp zurück. Toby Knight saß auf einem Campingstuhl unter einer Plastiklaube. Er rauchte eine Selbstgedrehte und hatte eine Bierflasche in der Hand.
„Was gibt’s, mein Wertester?“, fragte Toby. Toby Knight täuschte die sprachlichen Marotten einer Figur aus einem Roman von P. G. Wodehouse vor, war tatsächlich aber ein Gymnasiast aus der Kleinstadt Huntingdon, dessen Eltern ein Elektrogeschäft besessen hatten. „Schindluder Schabernack: Eine kurze Geschichte des Spaßes“ hatte Platz sechs in der Bestsellerliste der Sunday Times erreicht. Toby war für das Wochenende ein eigenes Tipi zugewiesen worden. „Du siehst gar kränklich aus.“
„Polly war gestern Nacht im Haus“, sagte Paul. „Sie hat E geschmissen, und Vici hat sie angegrapscht.“
„Spricht da der blasse Neid? Die Mutter deiner Kinder ist höchst attraktiv! Und sie war zu lange ins Babyland verbannt. Es war vermutlich schön für sie, bewundert zu werden. Außerdem steht es dir nicht gut zu Gesicht, dich über die alten Schnösel zu echauffieren. Dein Leumund ist nicht makellos, was außerplanmäßige Liebeleien angeht.“
Toby bezog sich auf eine Party in London, bei der Paul sich zu einer gewissen Lily Trumpington gesetzt und im Zustand drogeninduzierter Bewusstseinsveränderung das Ansinnen formuliert hatte, sie zu küssen. Lily war dreißig. Sie hatte lange rote Haare, die hoch in der Stirn zu einem geraden Pony geschnitten waren. Sie arbeitete als Model für die Punk-Modemacherin Daphne Darkwood, und sie schien jedesmal fasziniert davon, wenn Paul ihr erklärte, dass die mittelalterliche Kultur so viel sinnlicher gewesen sei als der darauf folgende Puritanismus. Dann blies sie Rauch nach rechts oder links, blickte Paul an und sagte: „Das ist so interessant!“
„Toby, du bist doch auch kein Freund der New-Nation-Bande, oder?“ Paul wusste genau, dass Toby einen bestens eingeübten Monolog über dieses Thema im Repertoire hatte. Sonst fand er ihn eher langweilig, aber nun, da Polly Interesse an diesen Leuten gefunden hatte, wollte er ihn unbedingt hören.
„Nun, das Unangenehme an diesen Leuten ist der Lebensstil, dem sie frönen und den sie darüber hinaus so beflissen als das schöne Leben verherrlichen. Das heißt: auf Kosten von Leuten zu leben, die sich verantwortungsvoller als man selbst verhalten. Ständig auf Partys zu gehen. Arbeit tunlichst zu vermeiden. Sich bis zum Exzess zu besaufen. Sich narzisstisch zu benehmen. Zu spielen. Sich dem Vergnügen hinzugeben. Harte Dogen zu nehmen. Promiskuitiven Sex mit jungen Mädchen zu haben und generell der Lüsternheit verfallen zu sein. Vor seinen Kindern am Swimmingpool auf Ibiza Drogen zu konsumieren. Und: sich generell einem habgierigen Materialismus zu verschreiben. All das verdammen sie bei anderen, sofern es sich bei diesen um Angehörige der Unterschichten handelt. Diese Leute glauben wirklich, dass für die Reichen andere Gesetze als für die Armen gelten. ‚Man muss sie aus der Abhängigkeit des Staats befreien!‘, tönen sie. ‚Die Empfänger von Transferleistungen müssen zu sinnvollen Tätigkeiten gezwungen werden! Es gibt zu viele Drogensüchtige und schwangere Teenager. Großbritannien schafft sich ab!‘ Und dann verheiraten diese Leute ihre jungen Töchter an lüsterne alte Junggesellen in ihren Fünfzigern. Ihr Tun wird auf den sogenannten Gesellschaftsseiten verbreitet, gefeiert und für amüsant befunden. Und wenn dann Angehörige der nutzlosen Arbeiterklasse dieses Verhalten kopieren und sich zurecht gegen die Schinderei auflehnen, die ihnen die Sklaventreiber anbieten, werden sie vors Amtsgericht gezerrt. Ich nehme an, der Unterschied besteht darin, dass das schöne Leben im Geheimen stattfindet, in herrschaftlichen Häusern auf dem Land oder in riesigen Wohnungen und Gärten in London. Die Bacchanalien der Reichen sind private Angelegenheiten, während die Gelage des Plebs in aller Öffentlichkeit zelebriert werden. In Pubs und Bars und auf den Straßen, wo sie die Augen scheinheiliger Moralisten beleidigen. Wie unappetitlich die Vorstellung ist, dass diese beleibten Gourmets im San Domingo’s sitzen, teure Weine verköstigen, und sich dabei selbstgefällig zuprosten, während sie darüber diskutieren, wie man der Unterschicht Arbeitsmoral beibringen könnte. Sie sind wie die fetten Industriellen in ‚Oliver Twist‘, die Waisenhäuser einrichten, wo die Kinder mit Haferschleim abgespeist werden, während sie eine Tür weiter Wildbret und Bordeaux aufgetischt bekommen. Voller Stolz frönen sie jeder Todsünde, derer da sind Hochmut, Neid, Völlerei, Wollust, Zorn, Habsucht und Trägheit, während sie von oben herab den arbeitenden Klassen ihre moralische Verkommenheit vorhalten!“
Toby machte eine Pause und fragte: „Fühlst du dich besser?“
„Nicht wirklich“, sagte Paul. „Toby, so kleine Schreiber wie wir sind doch sofort dabei, wenn wir für lächerliche fünfzig Pfund auf deren Anwesen lesen dürfen.“ Er wollte gerade behaupten, dass sie im tiefsten Inneren alle todunglücklich seien, obwohl er von ihrem seelischen Befinden keinen Schimmer hatte, als er in seinem Zelt ein Baby schreien hörte. Er steckte seinen Kopf hinein und sah Polly. Ihr Mund stand offen, ihre Augen waren geschlossen, und sie schnarchte leise. Er krabbelte ins Zelt, seufzte, und holte das weinende Kind nach draußen in den Buggy.
„Ich fahr mal ein bisschen mit dem Baby rum“, sagte er zu Toby.
Paul schob den Wagen über den Campingplatz in Richtung Haus. Es war sieben Uhr morgens. Hin und wieder hörte er kleine Kinder schreien. Ein großgewachsenes Mädchen in Wickelrock und Bikini-Oberteil verließ gerade ein blaues Dixieklo, von denen einige in gerader Reihe aufgestellt waren. Sie hatte eine Rolle Klopapier in der Hand und hob ihren Blick nicht vom Boden. Paul folgte einem Pfad und steuerte den Wagen über den weiten Rasen. Er wanderte an einer kleinen Bambusplantage vorbei, als er ein ihm bekanntes, hell klingendes Lachen hörte. Hinter einer niedrigen Steinmauer befand sich der Pool der Bumblings. Er war nicht beheizbar, und an seinem Ende befand sich ein kleiner Prachtbau im römischen Stil. Darin lag, schlafend auf einer Steinbank, der stadtbekannte Dandy und Poet Sebastian Oldman-Jones, sein Spazierstock lag zu seinen Füßen. Paul hielt an und besah sich die Figuren, die um den Pool lagerten. Am Beckenrand, mit verschränkten Beinen und oben ohne, Zigarette in der Hand, saß Lily, Lily Trumpington. Paul spürte ein Nervenzucken im Magen, das sich auf unangenehme Weise zum Geschmack von Galle in seinem Hals gesellte, den ihm Pollys Erzählung von ihrer Nacht mit dem Wüstling beschert hatte. Jetzt sah Lily ihn.
„Paul, gut siehst du aus!“ Paul schob den Buggy ein bisschen näher in Richtung Pool. „Und was für ein hübsches Baby!“ Das Baby war dankenswerterweise bereits eingeschlafen.
„Hallo Lily. Immer noch auf?“
„Ja, mein Lieber. Ich hab gestern leider deinen Vortrag verpasst. War es gut?“
„Es war schön, zwar nicht gerade überfüllt, aber …“
„Lily!“, dröhnte es da mit vollem Bariton. Vici war am Beckenrand erschienen. Er trug einen Anzug aus Leinen und einen Panamahut. Sein schwarzes Haar ergraute an den Schläfen.
„Lily, meine Liebste, wo warst du denn?“ Vic nahm Lilys Hand und küsste sie. Dann sagte er mit erhobenem Zeigefinger und gespieltem Ernst: „Fünf Minuten, ja?“ Er kehrte ins Haus zurück, und Lily zog ihr T-Shirt an.
„Tschüss zusammen, tschüss Paul“, sagte sie und winkte Paul zu. Dann formte sie lautlos ihre Lippen zu den Worten „Ruf mich an!“. Er sah ihr dabei zu, wie sie über den Rasen ging. Die Galle in seiner Kehle stieg weiter nach oben, und der Knoten in seinem Magen wurde fester. Dann hörte er einen schrecklichen Lärm und blickte nach oben. Aus dem Himmel sank ein Helikopter herab. Paul schob seinen Buggy weiter. Er schaute auf das Portal mit seinen romanesken Säulen. Auf der Treppe hatte sich eine kleine Gruppe versammelt. Er konnte Talulah Bumbling, Ali, den Perser, und Vici erkennen. Sie küssten sich zum Abschied. Dann erschien Lily in einem Anzug, der aus blauem Marinematerial geschneidert worden war, und schwarzen Converse-Schuhen. Sie trug eine Handtasche aus Leopardenfell. Vici und Lily erklommen den Helikopter. Pauls Hände ergriffen fest die Schaumgummigriffe des Buggys, während er dem Helikopter nachblickte, der langsam in den Morgenhimmel aufstieg.
Aus dem Englischen von Ulrich Gutmair