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Archiv-Artikel

Jeder vierte Europäer leidet unter Sparkurs

KRISE „Mehr Armut, mehr soziale Ausgrenzung“: Internationale Arbeitsorganisation ILO sieht europäisches Sozialstaatsmodell bedroht – und lobt ausgerechnet die Aufsteiger China und Brasilien

BERLIN taz | 123 Millionen Europäer sind Opfer des Sozialabbaus im Rahmen der Finanz- und Staatsschuldenkrise – das sind 24 Prozent oder fast ein Viertel der Bevölkerung der EU. Zusammen mit Arbeitslosigkeit, niedrigeren Löhnen und höheren Steuern hätte der Sparkurs vieler Regierungen zu „mehr Armut und sozialer Ausgrenzung“ geführt, erklärte die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) in ihrem am Dienstag veröffentlichten Jahresbericht. Das europäische Sozialstaatsmodell sei durch die Sparpolitik vieler Regierungen bedroht, rügte die ILO.

Zwar hätten viele Länder, auch die der EU, unmittelbar nach der globalen Wirtschaftskrise zunächst mithilfe von Konjunkturpaketen soziale Absicherungen ausgebaut. So gab es laut dem ILO-Bericht in den Jahren 2008 und 2009 weltweit noch in 48 Ländern mit hohem und mittlerem Einkommen Konjunkturpakete mit einem Gesamtvolumen von 2,4 Billionen Dollar (1,8 Billionen Euro). Allerdings wären diese Länder ab 2010 „trotz der dringenden notwendigen weiteren staatlichen Unterstützung schutzbedürftigter Bevölkerungsgruppen zur Haushaltskonsolidierung und zur verfrühten Ausgabenkürzung“ übergegangen.

Vor allem in vielen wirtschaftlich starken Ländern der EU sei gestrichen worden. Während einige Entwicklungsländer bemerkenswerterweise genau den gegenteiligen Kurs einschlugen und soziale Grundsicherungen ausbauten, hätten Staaten mit „hohem Einkommen ihre sozialen Sicherungssysteme“ drastisch zurückgefahren, bemerkt die ILO. Mit verheerenden Folgen für die Bevölkerung, vor allem Kinder, Frauen und Menschen mit Behinderungen seien hier von Armut betroffen.

Ganz anders und überraschend: China und Brasilien. Dies seien Beispiele, hebt der Bericht hervor, in denen Regierungen statt Kürzung auf eine Ausweitung des Sozialstaates setzen. In China wurden die Löhne erhöht und das Rentensystem wurde über die letzten 15 Jahre weitgehend ausgebaut.

Allerdings: Das Rentensystem hat sich hier laut ILO von einem Minimalstandard mit stark lückenhafter Versorgung heraus entwickelt, ist weder flächendeckend noch für alle Bürger zugänglich. Während Städter weitgehend abgesichert sind, werden die rund 150 Millionen chinesischen Wanderarbeiter von der staatlichen Altersvorsorge ausgeschlossen. Ob das System die Versorgung der stark alternden Gesellschaft stemmen kann, ist außerdem fraglich. Gleiches gilt für Brasilien: „Zwar ist das monatliche Einkommen seit der Einführung eines nationalen Mindestlohns in den vergangenen zehn Jahren um das Eineinhalbfache gestiegen“, bestätigt der ehemalige Leiter der Heinrich-Böll-Stiftung in Brasilien, Thomas Fatheuer. Dies habe „zu einer merklichen Verbesserung der wirtschaftlichen Situation von Angestellten im Niedriglohnsektor geführt“. Arbeiter verdienen hier statt umgerechnet 100 Euro Monatsgehalt jetzt etwa 250 Euro. „Doch diejenigen, die in Brasiliens stark wachsendem informellem Sektor arbeiten“, sagt Fatheuer, „sind davon ausgeschlossen.“ LAURA FLIERL