: Wo der Vers zum Menschen kommt
DICHTUNG Das Poesiefestival Berlin bietet statt kunstseliger Elfenbeinturmlyrik lieber Verse, die die Welt voll und ganz in sich haben – vom Ersten Weltkrieg über den Gezi-Park bis zu Formen des zivilen Ungehorsams
Das Poesiefestival Berlin holt die Welt in die Dichtung – mit Dichtern aus aller Welt, die aus ihrer Lebenswelt erzählen. Unter dem Titel „Türkei – Aufruhr in Versen“ lesen am Samstag Poeten, die allesamt an den Protesten rund um den Gezipark teilgenommen haben. Ebenso vertreten: „Katastrophen/Formen – Der Erste Weltkrieg und die Lyrik“ und eine Podiumsdiskussion über Formen des zivilen Ungehorsams. Zudem gibt es Dichterabende und „Poets Corner“-Lesungen. Für kreative Überschneidungen der Kunstformen schließlich sorgen die beiden Pop-Poesie-Bands Hans Unstern und The Schwarzenbachs.
■ Poesiefestival Berlin: 5.–13.6., Akademie der Künste, Hanseatenweg 10, Informationen und Karten unter www.poesiefestival.org
VON JÖRG SUNDERMEIER
Lyrik! Lyrik! Poesie! Wir kennen das: Verseschmiede sitzen beieinander und beweinen selbstbetrunken ihr menschliches Elend! Tresenpoetinnen reimen trotzig-rotzig für das nächste Glas Porter! Einsam im Elfenbeinturm hockend, vergisst der Sprachkünstler, dass es eine Welt gibt da draußen, in der Menschen arbeiten müssen, um zu leben.
Und auch das kennen wir: Wer Lyrik hören will, muss schweigen, darf nicht reagieren, muss Verzückung in seinem Gesicht zeigen und Andacht. Ein solcher Mensch muss ergriffen, darf jedoch keinesfalls ernsthaft berührt sein. Der Poet hinwieder ist zart und bleich, wird von jedem Lüftchen beinahe hinweggeweht, von jedem Staubkorn muss er husten.
So kennen wir das, so inszeniert das Fernsehen die Lyrik noch immer – einsam, von der Schönheit fast geblendet, irrt die halbverwirrte Poetin durch einen herbstlichen Skulpturengarten. Auch viele Lyriklesungen leben von dieser merkwürdigen Inszenierung; auf diesen wird dann nicht zu uns, nicht mit uns geredet, sondern für sich, wird nicht für ein Publikum gelesen, sondern für die Kunst, die Klassik, die Ewigkeit!
Ganz anders verhält es sich mit dem Poesiefestival Berlin, das am Donnerstag eröffnet. So werden dort etwa am Samstag Verse zu hören sein, die die Welt voll und ganz in sich haben: Mehmet Altun, Onur Behramoglu, Gökçenur Ç., Efe Duyan, Kaan Koç und Neslihan Yalman werden unter dem Titel „Türkei – Aufruhr in Versen“ Texte lesen, die die Regierung des Möchtegernsultans Recep Tayyip Erdogan nicht gern hören und nicht gern gehört wissen will. Alle hier auf der Bühne Versammelten haben an den Protesten rund um den Gezi-Park teilgenommen, und alle haben etwas dazu zu sagen – in Versen.
Am Montag dagegen werden hundert Jahre übersprungen – auf dem Zeitstrahl zurück in die Vergangenheit. Unter dem Titel „Katastrophen/Formen – Der Erste Weltkrieg und die Lyrik“ werden zunächst die zwischen 1914 und 1918 entstandene Gedichte vorgestellt, oftmals schreckliche hurrapatriotische Werke, die auch formal häufig so schlecht waren, dass selbst ein Karl Kraus nicht mehr über sie herziehen mochte. Im Anschluss befragen die heute tätigen PoetInnen Jacques Darras, Antony Rowland, Sergej Moreino, Xaver Römer, Julia Trompeter und Vörös István ihre eigene Dichtung auf Nachwirkungen des Ersten Weltkrieges.
Am Mittwoch dann werden der Politiker Canan Bayram, der Anwalt Carsten Gericke, der Kunstsoziologe Bernd Lindner, die Verlegerin Selma Wels und der Dichter Serhiy Zhadan über Formen des zivilen Ungehorsams sprechen. Anhand von Beispielen aus der Ukraine und der Türkei, aber auch an Beispielen aus Deutschland soll ausgelotet werden, inwieweit Widerstand überhaupt möglich ist und Sinn ergibt – und dies selbstredend auch in der Kunst und hier natürlich vor allem in der Poesie.
Doch auf dem Poesiefestival Berlin wird nicht nur permanent die Wirklichkeit erkundet und der Innenwelt die Außenwelt entgegengesetzt; auch die Kunstformen überschneiden sich hier mehrfach, es wird poetische Performances geben und gefilmte Lyrik, Tanz und Musik. Beispielsweise mit den beiden Pop-Poesie-Bands Hans Unstern und die Band The Schwarzenbachs (zum Abschluss des Festivals am 13. 6.), deren Auftritte zeigen werden, wie sehr die Texte die Musik, wie sehr aber auch die Musik die Texte beeinflusst.
Am Dienstagabend werden Ann Cotten, Martina Hefter, Sina Klein, Clemens Kuhnert, Florian Neuner und Bernhard Saupe an dem „Dichterabend #1 – Enneagrammatische Untersuchung des Wesens der Dichtkunst, unter Berücksichtigung ihrer Pluralität“ versuchen, die Grenzen der Sprache auszuloten, sie werden die Poesie auf den Kopf stellen und ihre eigene Arbeit und die dieser zugrunde liegende Poetik dabei radikal hinterfragen.
Mit den Poets Corner Lesungen, an denen bereits nahezu alle Dichterinnen und Dichter teilgenommen haben oder teilnehmen werden, die in Deutschland Rang und Namen haben, wird direkt in die Kieze gegangen, so wird in Lichtenberg und Spandau gelesen und in fast allen übrigen Stadtteilen, denn es ist ja so: kommt der Mensch nicht zum Vers, dann kommt der Vers zum Menschen.
Und auf die Ewigkeit und den Anspruch der Künste auf sie wird bei diesem Großereignis selbstredend auch nicht verzichtet: Am Beispiel der beiden vor noch nicht allzu langer Zeit verstorbenen Dichter Oskar Pastior und Thomas Kling, deren Werk eine Ausstellung zugänglich machen soll, wird gezeigt, wie sehr Lyrik Zeit und Raum überdauern kann – und dies gerade auch dann, wenn sie sich nicht von der Welt abgewandt hat.