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Archiv-Artikel

„Die wenigsten sind gefährlich“

Der Jugendgewaltexperte Adolf Gallwitz hofft, dass die Amokhysterie ein heilsamer Schock für die Schulen wird und sich die Betreuung bessert: „Die Lehrer müssen sich für die Schüler Zeit nehmen“

taz: Herr Gallwitz, unter den Schulbänken werden Amoklisten verfasst, im Internet wimmelt es von Drohungen, und im ganzen Land werden Schüler verhaftet. Dürfen wir dieses Interview eigentlich führen – oder inspirieren wir damit weitere Trittbrettfahrer?

Adolf Gallwitz: Ehrlich gesagt glaube ich nicht, dass man das aktuelle Medieninteresse noch steigern kann.

Wie ernst muss man die ganzen Drohungen denn nehmen?

Nur sehr wenige besitzen wirkliches Gefährdungspotenzial. Die Frage ist nur: Wie lange braucht die Polizei, um genau das herauszufinden? Natürlich müssen die Behörden jeder Drohung nachgehen. Da zeigen sich übrigens auch die positiven Seiten der öffentlichen Aufmerksamkeit. Viele Hinweise werden nun ernster genommen und gleich gemeldet.

Wie konnte es überhaupt zu dieser Panik kommen?

Die intimen Details, die nach dem Emsdettener Amoklaufs bekannt wurden, machen es vielen Jugendlichen möglich, sich mit dem Täter zu identifizieren. Die denken dann: Der ist so alt wie ich, dem geht’s in der Schule wie mir – fehlt also nur noch die Knarre von Opa.

Das klingt beängstigend. Was hat sich auf den Schulhöfen verändert?

Ganz klar: Die Anforderungen sind enorm gestiegen, gleichzeitig werden die Zukunftsperspektiven schlechter. Dadurch steigen die Versagensängste der Kinder, und auch die Lehrer sind überfordert. Je höher der Leistungsdruck in den Klassenzimmern, desto rauer der Ton auf den Schulhöfen.

Welches Profil haben die gefährlichen Nachahmer?

Meist sind es empfindliche Einzelgänger, die ihre Konflikte nicht lösen können und irgendwann explodieren. Oft flüchten sie sich in eine virtuelle Scheinwelt – und manche können Chaträume und Killerspiele irgendwann nicht mehr von der Wirklichkeit unterscheiden.

Also vernachlässigte Einzelfälle?

Ich glaube, jede Schule hat eine Leiche im Keller. Aber gerade deshalb ist die Amokhysterie auch ein heilsamer Schock für die Schulen: Jetzt sind sie wirklich mit dem Problem konfrontiert. Wir brauchen kein Killerspielverbot, wir müssen die Ursachen bekämpfen, die Jugendliche in solche Lebenssituationen führen. Jetzt sind die Lehrer gefragt – sie müssen dafür sorgen, dass Schule so wenig wie möglich Hölle ist.

Aber eben sprachen Sie von Leistungsdruck und Überbelastung in Schulen. Wie ist das vereinbar?

Ein menschenwürdiges Zusammenleben muss auch bei hohen Leistungsanforderungen nötig sein. Und dafür brauchen wir einfach eine bessere Betreuung: Die Lehrer dürfen sich nicht nur die Klinke in die Hand geben, sondern müssen sich für ihre Schüler Zeit nehmen. In der Lehrerausbildung ist mehr Psychologie gefragt. Vor allem brauchen wir dringend mehr Lehrer – die sind immer noch billiger als die Schulpsychologen, die in den letzten Tagen gefordert wurden. INTERVIEW: NICO POINTNER