: Der Witwenforscher
Bernhard Jussen mixt Geschichte mit Kulturwissenschaft. Dafür erhält der Bielefelder Historiker den Leibniz-Preis
Das Mittelalter gilt als Zeitalter der Könige, Burgen und Ritter. Auch Kreuzzüge, Hexenverbrennung und Leibeigenschaft fallen einem noch ein. Aber kaum jemand würde wohl die Witwe mit dem Mittelalter assoziieren. Ein rein technischer Begriff, möchte man meinen: eben eine Frau, deren Mann verstorben ist.
Wie viel komplizierter die Sache in Wirklichkeit ist, hat Bernhard Jussen gezeigt, Historiker an der Uni Bielefeld. In seinem bekanntesten Werk „Der Name der Witwe“ hat der 47-jährige, der vorgestern mit dem Gottfried-Wilhelm-Leibniz-Preis der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) ausgezeichnet wurde, den Begriff der Witwe im Mittelalter semantisch erforscht.
In dem von der Kritik hochgelobten Werk zeigt Jussen, wie christliche Autoren aus der Witwe eine Figur der mittelalterlichen Bußkultur gemacht haben: Es ist die Frau, die nach dem Verlust des Gatten in ewiger Trauer lebt und betet.
Die Witwe hatte in ihrer Trauer tugendhaft zu sein, also enthaltsam. Moralisch rückte sie damit zwischen Jungfrau und Verheiratete. Aus dieser Rangfolge ergab sich die mittelalterliche Morallehre: Im Himmel erwartete Jungfrauen, die schon in der religiösen Vorstellungswelt der Antike einen besonderen Stellenwert hatten, der hundertfache Lohn. Verheiratete bekamen nur das dreißigfache, Witwen immerhin noch das sechzigfache. Jedenfalls wenn sie tugendhaft lebten und nicht die gefährlichen Verführerinnen gaben, als die sie – als sexuell erfahrene Frauen – den christlichen Moralisten auch galten. Diese Moralvorstellungen änderten sich erst allmählich mit dem Ende des Mittelalters.
Bernhard Jussen, der 1988 an der Universität Münster promovierte, hat sich nicht nur mit dem Witwenthema weit über die Grenzen der klassischen Geschichtswissenschaft hinaus und in Richtung Kulturwissenschaft bewegt. Der Deutschen Forschungsgemeinschaft ist genau das einen Preis wert. Jussen nutze „das ganze Spektrum anthropologischer und ethnologischer Methoden“, so die DFG. Er hinterfrage „Mentalitäten und moralische Handlungskategorien, auf denen gesellschaftliche Ordnungen basieren“.
Somit kann Bernhard Jussen seine Forschungen in den nächsten Jahren finanziell gut abgesichert fortsetzen. Denn der Gottfried-Wilhelm-Leibniz-Preis ist mit 2,5 Millionen Euro der höchstdotierte Förderpreis in Deutschland. DIRK ECKERT