Das Auge des Jazz

FOTOGRAFIE Verrauchte Clubs, Trompeten und Lebensgefühl: Ein Fotoband mit Herman Leonards Porträts afroamerikanischer Jazzgrößen lässt die legendäre „Birdland“- Ära wieder aufleben

Die helle Seite des Jazz: Leonard porträtierte Romantik, wo andere nur Verfall sahen

VON CLAAS RELOTIUS

Manchmal sind es kurze Momente, die eine Person vor unserem geistigen Auge unsterblich werden lassen. Eine späte Januarnacht im Jahr 1958, Duke Ellington spielt Piano in einem dunklen Pariser Theater. Mehr als 300 Menschen sitzen im Publikum und sehen ihm dabei zu. Doch für ein paar Augenblicke scheint es, als wäre der berühmte Künstler ganz allein. Eine Hand auf den Tasten, die andere in der Luft, da fällt ein greller Lichtkegel auf Ellingtons Rücken und hüllt seine Silhouette in heroische Gestalt.

Der Jazz-Fotograf Herman Leonard hat diesen Moment festgehalten und setzte damit nicht nur Duke Ellington, sondern auch sich selbst ein Denkmal. Leonard, ein Sohn rumänisch-jüdischer Immigranten, der im August vergangenen Jahres im Alter von 87 Jahren verstarb, gilt heute als der wichtigste und populärste Jazzfotograf des 20. Jahrhunderts. Seine Schwarzweißporträts von Künstlern wie Miles Davis, Lester Young oder Dizzie Gillespie gingen um die Welt und begründeten ihrerseits den Ruf der legendären „Birdland“-Ära der fünfziger Jahre.

Nun ist postum unter dem Titel „Jazz“ Leonards letzter Fotoband erschienen. Darin entfalten mehr als 320 großformatige Aufnahmen nicht nur die Vielfalt von Leonards Werk, sondern kristallisieren erstmals auch dessen persönliche Philosophie in Bezug auf die abgelichtete Musikkultur heraus.

Intime und liebevolle Aufnahmen, die etwa einen inbrünstig Saxofon spielenden Charlie Parker nicht auf, sondern hinter der Bühne zeigen, bezeugen es: Herman Leonard feierte das Jazzleben, anstatt es zu dämonisieren. Während die meisten seiner Kollegen die dunkle Seite des Jazz hervorhoben – beispielsweise durch Fotos des von Drogen gezeichneten Chet Baker gegen Ende seiner Karriere –, ging Leonard den entgegengesetzten Weg. Für ihn sollten Jazzmusiker nicht gefürchtet oder gar bemitleidet, sondern bewundert werden. Er sah die Poesie, wo andere das Drama sahen. Er porträtierte Romantik, wo andere sich auf den Verfall stürzten.

Stilisierter Zigarettenqualm und kontrastreiche Schwarzweiß-Aufnahmen wurden ein Markenzeichen seiner Arbeit. Leonards unverwechselbare Handschrift ist ein Ergebnis seiner Liebe zu den Musikern, die er in den vierziger und fünfziger Jahren überwiegend in New York fotografierte. Sie strahlt in „Jazz“ von jedem Bild herab. Eines zeigt Herbie Hancock gedankenversunken über das Piano gelehnt, verträumt mit einer Hand über die Tasten wandernd, als gäbe es nur ihn und die Musik. Ein anderes setzt den als so unnahbar und kühl geltenden Dexter Gordon – eine Zigarette in der Hand und das Saxofon lässig auf den Beinen abgelegt – warmherzig als coolen Dandy in Szene. Und auf dem nächsten Bild umklammert Chet Baker mit geschlossenen Augen seine Trompete mit einer Anmut, als wäre sie seine Geliebte.

Dass Leonard als Weißer sämtlichen schwarzen Jazzern so nahe kam, war für die fotografierten Künstler offenbar nur selbstverständlich. „Er konnte gut mit Schwarzen umgehen“, schreibt Wynton Marsalis, einer der berühmtesten Trompeter der Gegenwart, im Vorwort von „Jazz“. Er begegnete Leonard vor wenigen Jahren noch selbst, bezeichnet ihn als treuen Begleiter, der viel mehr selbst ein Teil der Szene war, als nur ihr Chronist zu sein. „Herman war wie die Jungs aus New Orleans – unkonventionell und entspannt. Er war das wahrhaftige Auge des Jazz. Durch ihn konnte die Welt uns sehen, wie wir sind.“

Dennoch brachten Leonard seine Fotografien über Jahrzehnte hinweg zunächst kaum Geld. Sogar in der goldenen Ära des Jazz erhielt er gerade einmal zehn Dollar pro Veröffentlichung. Hauptberuflich hielt er sich als Werbefotograf über Wasser – bis seine Karriere Ende der Achtziger eine unerwartete Wendung nahm: Mit der damaligen Renaissance des Jazz entpuppten sich Leonards Aufnahmen als gefragte Reminiszenzen und tauchten plötzlich in den Clubs und Galerien der ganzen Welt auf. Über den späten Ruhm seines Schaffens war dabei offenbar niemand überraschter als Leonard selbst.

„Als ich Miles oder Dizzie in den Anfangstagen fotografierte, wusste ich, dass sie gute und wichtige Musiker waren. Aber mir war nicht klar, wie wichtig sie einmal werden sollten“, wird er in „Jazz“ zitiert. „Wenn ich eine Ahnung gehabt hätte, würde ich zehn Mal so viele Fotos gemacht haben.“

Herman Leonard: „Jazz“. Bloomsbury USA, New York 2010, 320 Seiten, 34 Dollar