: Spießer unter Revolutionären
Von Onkel Fritz ist man immer wieder enttäuscht: Die aktuelle Bremer „Brücke“-Ausstellung bleibt fast bleylfrei – was einen Besuch erst Recht nahe legt. Denn die anderen Expressionismus-Pioniere haben einen Sog, der Papier zum Suchtstoff macht
VON HENNING B.
„Sind Sie verwandt?“ Wer Bleyl heißt, wird in Kunstkontexten gern nach Fritz gefragt, weil der eine der weltweit wichtigsten Künstler-Vereinigungen mitbegründete – die „Brücke“. Für Wilhelm Zwo bedeutete deren Arbeit einen „Abstieg der Kunst in den Rinnstein“, andere diagnostizieren ähnlich Unfassbares wie den „Beginn der Moderne“. Jedenfalls, um auf mich selbst zurückzukommen: Kein Mensch ist eine genetische Insel. Um es genauer zu sagen: Fritz ist mein Onkel 16. Grades. Möglicherweise auch 15.
Vergangenes Jahr habe ich ihn besonders oft getroffen. 100 Jahre „Brücke“, Ausstellungen allerorten, auch jetzt noch, derzeit zum Beispiel im Bremer Paula Modersohn-Becker Museum. Fritz Bleyl ist omnipräsent. Nicht als Künstler, sondern als „Brücke“-Mitbegründer, was in seinem Fall durchaus nicht deckungsgleich ist. Darin nämlich besteht die Crux meiner glorreichen Verwandtschaft: Bleyls enge Freundschaft mit Ernst Ludwig Kirchner bildet die Keimzelle für das 1905 in Dresden konstituierte Künstler-Quartett, sein persönlicher Output ist aber nicht allzu peppig. Will heißen: Man muss ihn feiern, hat aber wenig zu zeigen.
Süß ist immerhin der Pelikan. Die Bremer Schau nagelt das leicht gerupfte Tier gleich an die Wand des ersten Raumes: Ein dick gerahmter Holzschnitt auf sattem gelben Grund – was wäre das für ein Postkarten-Motiv! Die Vermarktung scheitert leider an überzogenen Geldvorstellungen meiner süddeutschen Namensvettern, die das Copyright geerbt haben – so was kommt ja in den besten Familien vor. Kunsthistorisch ausgedrückt: Bleyls sowohl japonistisch als auch jugendstilig beeinflusste Begeisterung für die – eigentlich seit Dürer brach liegende – Holzdrucktechnik ist sein nennenswertester Beitrag zum „Brücke“-Geschehen.
Bleylfrei ist daher der nächste Raum. Es ist ein unanständiger Raum! Überall gespreiztes Fleisch, Karl Schmidt-Rottluffs „Kniender weiblicher Akt“ mit den hochgereckten Brüsten neben auf Teppichen sich aalenden Modellen – kein Genre für meinen Onkel. Mitgemacht hat er schon bei den berüchtigten „Viertelstundenakten“, die Idee der anti-akademischen Autodidakten war verführerisch genug: Höchstens 15 Minuten hat man Zeit für eine Zeichnung, „unmittelbar und unverfälscht“ – so auch der Bremer Ausstellungsstitel – sollte das Ergebnis sein. Bleibendes Nacktes haben allerdings eher seine Mitstreiter hinterlassen.
Fritz war der Spießer unter den Revolutionären. „Oft stand ich mitten im Coitus auf, um eine Bewegung, einen Ausdruck zu notieren“, kann Ernst Ludwig Kirchner später mit klarem Blick für das Wesentliche erzählen – Fritz hingegen fand es schon mit 26 Jahren an der Zeit, aus dem wilden Avantgarde-Leben auszusteigen und Tante Gertrud zu heiraten. Brav verehelicht folgte eine Karriere als städtischer Baurat. Kommt man so in’s Museum?
Die anderen machten munter weiter. Man muss sich nur in die Strudeligkeit von Kirchners „Straßenszene“ ziehen lassen, ganz zu schweigen vom fokussierten Chaos des nicht weit entfernt hängenden „Eisenbahnunglücks“, um zu begreifen: Hier entstand tatsächlich ein „Expressionismus“. In dem Striche zum Sog und Farben zum Psychogramm wurden.
Fritz hat derweil – auch das ist in Bremen zu sehen – noch ab und zu einen Elbdampfer skizziert oder einen „Obstgarten“ gepinselt. Immerhin ist der Vergleich erhellend: Bleyl bedient sich eines ausgeprägten Pointillismus, will heißen, er setzt seine Bilder aus streng voneinander abgesetzten Farbpunkten zusammen. Was dabei herauskommt, sieht wie das schlecht aufgelöste Pixelbild eines PC-Vorläufers mit uralter Grafik-Karte aus. Bei Schmidt-Rottluffs „Birkenstämmen“ hingegen verbinden sich die Tupfer zu einem wogenden Zauberwald.
Strikte Kontrolle statt schillernden Farbflusses: Ob Onkel Fritz das „Brücke“-Prinzip missverstanden hat? Am besten gefällt mir die Anekdote, wie er immer zum Pauspapier griff, um seine Vorlagen fein säuberlich auf die Druckplatten zu übertragen, seitenverkehrt und auch sonst hoch korrekt. Die anderen suchten gerade in der direkten, nicht revidierbaren Bearbeitung des Druckstocks ihr Heil. Gut, irgendwann entstand die leicht x-beinige „Isabella“, eine anrührende Akt-Lithographie von Onkel Fritz, die als Plakat für die erste „Brücke“-Ausstellung diente. Aber gibt es etwas Betulicheres, als sich bildnerisch einer „Burg“ zu widmen? Die Kunstgeschichte – auch Cathy Stoike im aktuellen, sehr opulenten Ausstellungskatalog – pflegt Bleyls gleichnamiges Werk als beispielhaft in Bezug auf das „sichere Gespür für eine ausgewogene Komposition“ zu würdigen. Aber im Grunde gilt auch hier: ab in den Postkartenständer.
Die Pechsteins, Muellers und Heckels hingegen – vorübergehend kam auch Nolde dazu – sind eine Reise nach Bremen wirklich wert. Die 131 gezeigten Papierwerke geben einen hervorragenden Überblick über die künstlerische Dynamik der Gruppe, die 1913 nach wilden Streitereien in der Selbstauflösung kulminierte. Da arbeitete Onkel Fritz schon längst an seiner Verbeamtung auf Lebenszeit.
„unmittelbar und unverfälscht“ – Meisterwerke der „Brücke“-Künstler auf Papier: Paula Modersohn-Becker Museum in Bremen, bis zu, 1. Januar 2007. Heute um 18 Uhr findet eine öffentliche Führung statt. Weitere Informationen im Internet unter: www.pmbm.de